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"NSU 2.0"-Briefe setzen Minister unter Druck

10. Juli 2020

Hessische Politiker erhalten Drohschreiben - mit privaten Details. Das nährt auch bei Innenminister Peter Beuth einen düsteren Verdacht: Gibt es ein rechtsextremes Netzwerk bei der Polizei?

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Sondersitzung des hessischen Landtags | Peter Beuth und Janine Wissler
Hessens Innenminister Peter Beuth mit Linken-Fraktionschefin Janine Wissler (Archivbild) Bild: picture-alliance/dpa/A. Arnold

Schon 2018 war in Hessen von einem "Polizeiskandal" die Rede. Damals hatte sich herausgestellt, dass Morddrohungen an eine Nebenklagevertreterin im NSU-Prozess persönliche Details enthielten, die mutmaßlich mit einem Dienstcomputer der Frankfurter Polizei abgefragt worden waren. Unterzeichnet war das Schreiben mit "NSU 2.0", einer Abkürzung für "Nationalsozialistischer Untergrund", jene Neonazi-Terrorgruppe, der zehn Morde zwischen 2000 und 2007 zugeschrieben werden.

2019 fand die Adressatin der Drohungen, Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, wieder ein Fax in ihrem Posteingang, das diese Unterschrift trug. Und wieder enthielt es Daten, auf die neben dem engsten Umfeld nur Behörden zugreifen können. Inzwischen waren mehrere Polizeibeamte, die sich gegenseitig rechtsextreme Chatnachrichten geschickt hatten, vom Dienst suspendiert worden, und der Frankfurter Polizeipräsident versicherte: Menschen, die nicht auf dem Boden der freiheitlichen Grundordnung stünden, hätten im Polizeidienst nichts zu suchen.

Altes Muster - neue Adressen

Doch 2020 werden Vorfälle bekannt, die dem gleichen Muster folgen: Janine Wissler, Fraktionschefin der Linken im hessischen Landtag und stellvertretende Bundesvorsitzende ihrer Partei, bekommt übelste Gewaltdrohungen, erst im Februar, dann erneut vor wenigen Tagen. Auch diesmal stellt sich heraus: Die persönlichen Details, die der Verfasser einflicht, wurden an einem Polizeirechner abgerufen.

Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz in einem Flur ihres Büros
Strafverteidigerin Seda Basay-Yildiz (Archivbild)Bild: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Wissler ist nicht die einzige Adressatin - auch an andere Landespolitiker gehen solche E-Mails. Am Montag erhalten nach Angaben des Hessischen Innenministers Peter Beuth auch er selbst und Ministerpräsident Volker Bouffier Post vom "NSU 2.0". Beuth ist angesichts der auffälligen Wiederholungen in Erklärungsnot. Er habe stets gesagt, dass kein rechtes Netzwerk bei der hessischen Polizei existiere, so der CDU-Politiker. Auch weiterhin gebe es dafür keine Belege. Der neue Fall, räumt Beuth dann allerdings ein, "nährt den Verdacht".

Spitze Pfeile Richtung LKA

Wie tief das Vertrauen des Innenministers in seine Beamten erschüttert sein muss, zeigt sich am Donnerstag: Beuth kündigt an, ein Sonderermittler solle die Aufklärung vorantreiben und direkt an den hessischen Polizeipräsidenten berichten. Zugleich schießt der Ressortchef ungewöhnlich spitze Pfeile in Richtung Landeskriminalamt. Das LKA habe einen Polizisten zum Abruf privater Daten von einem Dienstcomputer befragt, dies aber nicht nach oben gemeldet. Nach eigener Darstellung erfuhr Beuth hiervon erst am Mittwoch. Das sei "völlig inakzeptabel".

Eingangstür eines Polizeireviers in Frankfurt am Main
Polizeirevier in Frankfurt am Main Bild: Getty Images/T. Lohnes

Als weitere Konsequenz kämen die Abfragemechanismen innerhalb der polizeilichen Systeme nochmals auf den Prüfstand, so Beuth. Jeder Polizist müsse für solche Anfragen einen dienstlichen Grund haben und diesen auch belegen können. Andernfalls dürfe es keinen Zugriff geben.

Weitere Linken-Parlamentarierinnen betroffen

Neben Janine Wissler haben einem Zeitungsbericht zufolge noch weitere Linken-Politikerinnen Drohschreiben erhalten, die mit "NSU 2.0" unterschrieben sind. Betroffen seien die Bundestagsabgeordnete Martina Renner und die Fraktionschefin im Berliner Abgeordnetenhaus, Anne Helm, berichtet die "Tageszeitung" aus Berlin. Auch in den Drohschreiben an Renner und Helm seien persönliche, öffentlich nicht bekannte Informationen enthalten gewesen.

Von allen drei Linken-Politikerinnen werden nach Informationen der Zeitung in den Schreiben persönliche Daten aufgeführt und ihnen ein "Todesurteil" ausgesprochen. Die Politikerinnen sind bekannt für ihr Engagement gegen Rechtsextremismus. Renner machte den Ermittlern schwere Vorwürfe. "Das LKA Hessen hat bei der Aufklärung der Drohserie bisher komplett versagt", sagte sie der Zeitung. "Es ist ein schweres Versäumnis von Innenminister Beuth, sich erst jetzt um die Morddrohungen gegen engagierte Frauen zu kümmern."

Längst ist die Sache also keine hessische Angelegenheit mehr. In der Hauptstadt erhebt Linken-Chef Bernd Riexinger Vorwürfe gegen die Behörden: "Ich bin schockiert darüber, dass meinen Kolleginnen in der Vergangenheit zu keinem Zeitpunkt Polizeischutz angeboten wurde. Wenn so der Eindruck entsteht, dass der Staat die Bedrohungslage nicht ernst nimmt, stärkt das die Täter", sagt er der "Rheinischen Post".

Zugang zu Waffen

Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock fordert, dass unabhängige Wissenschaftler verfassungsfeindliche Tendenzen bei den Sicherheitsbehörden untersuchen. Es gehe nicht um einen Generalverdacht, die allermeisten Mitarbeiter seien "ohne jede Frage verfassungstreu", sagt Baerbock der Deutschen Presse-Agentur. Aber wenn Rechtsextremismus in Sicherheitsbehörden - die Zugang zu Waffen und sensiblen Daten hätten - immer wieder vorkomme, müssten diese Umtriebe aufgedeckt, analysiert und konsequent geahndet werden.

Bundespräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang bei einer Konferenz mit Bundesinnenminister Horst Seehofer
Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang (links) mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (Archivbild)Bild: Getty Images/AFP/H. Hanschke

Auch der Bundesverfassungsschutz kündigt an, genauer hinzuschauen. Es gebe inzwischen "zu viele der sogenannten Einzelfälle", als dass man diese nicht noch einmal in der Gesamtschau betrachten müsse, sagt Präsident Thomas Haldenwang im Zweiten Deutschen Fernsehen. Er sei zuversichtlich, dass im September ein erstes Lagebild zu Rechtsextremismus und Rassismus in den Sicherheitsbehörden vorgelegt werden könne.

Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte noch am Dienstag betont, seit seinem Amtsantritt 2018 sei gegen Antisemitismus und Extremismus "mehr geschehen als in all den Jahren vorher". Mit Bezug auf seine Abwehrhaltung gegen eine Untersuchung zu rassistischen Polizeikontrollen bekräftigte er im
ARD-Fernsehen: "Ich erkenne weder im öffentlichen Dienst noch bei der Bundespolizei diesbezüglich ein strukturelles Problem."

jj/kle (dpa, afp, epd)

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