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Politik

NSU: Verfassungsschutz angezeigt

5. Oktober 2016

Anwälte von NSU-Opfern werfen dem Inlandsgeheimdienst Strafvereitelung vor. Hintergrund ist die gezielte Vernichtung von Akten kurz nach dem Auffliegen der rechtsextremistischen Terrorgruppe.

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Protest-Aktion vor dem Oberlandesgericht München NSU Prozess Kölner Keupstraße
Nur noch leere Ordner - Protestaktion gegen die Vernichtung von Akten mit NSU-BezugBild: DW/M. Fürstenau

Über diese Affäre stolperte schon ein Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV): Heinz Fromm bat im Sommer 2012 um seine  vorzeitige Entlassung, nachdem die "Operation Konfetti" bekannt geworden war. Hinter dieser spaßig klingenden Bezeichnung steckte ein handfester Skandal. Denn ein halbes Jahr nach der Selbstenttarnung des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) wurde bekannt, dass im BfV zahlreiche Akten mit NSU-Bezug im Reißwolf gelandet waren. Dabei handelte es sich um Unterlagen zu rechtsextremen Spitzeln des Verfassungsschutzes, sogenannte V-Leute. Die Aktion fand am 11. November 2011 statt, eine Woche nach dem Auffliegen des NSU.

Der damalige BfV-Chef Fromm wusste nach eigener Aussage nichts von dem Vorgang. Er sprach aber von einem "erheblichen Vertrauensverlust", einer "gravierenden Beschädigung des Ansehens des Amtes" - und zog persönliche Konsequenzen. Sein Nachfolger Hans-Georg Maaßen sieht sich nun, gut viereinhalb Jahre später, mit einer Strafanzeige gegen Mitarbeiter seiner Behörde konfrontiert. Darunter ist jener Beamte mit dem Decknamen Lothar Lingen, der das Schreddern des brisanten Materials angeordnet hat.    

Begehrter Zeuge mit Tarnnamen: Lothar Lingen

Die "Operation Konfetti" spielte auch schon im NSU-Prozess vor dem Münchener Oberlandesgericht eine Rolle. Anfang August 2015 stellten 29 Nebenkläger-Anwälte den Antrag, die weitgehend rekonstruierten Akten in das Strafverfahren einzuführen. Außerdem solle Lothar Lingen als Zeuge gehört werden. Die Bundesanwaltschaft warb erfolgreich dafür, das Ansinnen der Strafverteidiger abzulehnen. Deren Behauptung sei "aufs Blaue hinein und entgegen aller bislang vorliegenden Erkenntnisse spekulativ".

Heinz Fromm
Heinz Fromm wollte nach der Vernichtung von NSU-Akten nicht länger Präsident des Verfassungsschutzes seinBild: dapd

Diese Einschätzung der Bundesanwaltschaft passt jedoch überhaupt nicht zu dem, was Ende September im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages bekannt wurde. Als Zeuge war Lingen geladen. In öffentlicher Sitzung wurden Auszüge des Protokolls seiner Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft verlesen. Demnach war ihm nach dem Auffliegen des NSU "völlig klar, dass sich die Öffentlichkeit sehr für die Quellenlage des BfV in Thüringen interessieren wird". Aus diesem Bundesland stammen sowohl die Hauptangeklagte im NSU-Prozess Beate Zschäpe als auch ihre toten Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos.

Opfer-Angehörige vermissen Willen zur Aufklärung

Der Verfassungsschutz hatte in der rechtsextremen Szene Thüringens zahlreiche V-Leute. Das hätte zu der Frage geführt, "aus welchem Grunde die Verfassungsschutzbehörden über die terroristischen Aktivitäten der Drei eigentlich nicht informiert worden sind". So hat Lingen laut Vernehmungsprotokoll gegenüber der Bundesanwaltschaft die von ihm ausgelöste Akten-Vernichtung begründet. Deshalb haben am Mittwoch vier Nebenkläger-Anwälte bei der Staatsanwaltschaft Köln Strafanzeige gegen Lingen und weitere "bislang unbekannte Mitarbeiter" des BfV gestellt. Sie werfen dem deutschen Inlandsgeheimdienst unter anderem Strafvereitelung und Urkundenunterdrückung vor.

Deutschland NSU Prozess Nebenklägerin Gamze Kubasik in München
Gamze Kubasik beantwortet im Beisein ihres Anwalts Sebastian Scharmer Fragen von JournalistenBild: picture-alliance/dpa/A. Gebert

Die Strafanzeige wurde auch im Namen der Witwe und der Tochter des am 4. April 2006 vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşik gestellt. Deren Anwälte - Antonia von der Behrens, Carsten Ilius, Sebastian Scharmer und Peter Stolle - wollen damit den Druck auf die Behörden erhöhen. Elif Kubaşik will wissen, "ob der Verfassungsschutz Informationen hatte, mit denen der Mord an meinem Mann hätte verhindert werden können". Ihr und ihrer Tochter sei Aufklärung versprochen worden, "aber das Gegenteil ist der Fall".

Auch die Bundesanwaltschaft wurde schon angezeigt

Die jetzt erstattete Anzeige ist die zweite innerhalb kurzer Zeit, die von Familienangehörigen der NSU-Opfer gestellt wurde. Im September hatten die Nebenkläger-Anwälte Seda Basay-Yildiz und Mehmet Daimagüler Vertreter der Bundesanwaltschaft und Beamte des Berliner Landeskriminalamtes unter anderem wegen des Verdachts der Strafvereitelung im Amt angezeigt.

Dabei geht es um das Notizbuch des Neonazis Jan W. Er soll von dem 1998 untergetauchten NSU-Trio beauftragt worden sein, Schusswaffen zu besorgen. Basay-Yildiz und Daimagüler vertreten im Münchener NSU-Prozess die Angehörigen der Opfer Enver Şimşek, İsmail Yaşar und Abdurrahim Özüdoğru.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte – Schwerpunkt: Deutschland