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Null Toleranz in Moskau

Stephan Hille, Moskau21. Februar 2006

Prügel und Proteste drohen Schwulen und Lesben in Russland, falls sie eine Love-Parade organisieren. Aber dazu wird es wohl erst gar nicht kommen. Denn der Bürgermeister will die geplante Parade verbieten.

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Stephan Hille

Schwule und Lesben haben in Russland einen schweren Stand. Zu Sowjetzeiten stand die gleichgeschlechtliche Liebe unter Gefängnisstrafe. Inzwischen werden Homosexuelle zwar nicht mehr von den Gerichten verfolgt, doch in der russischen Gesellschaft ist das Thema noch immer ein großes Tabu. Für die orthodoxe Kirche gilt Homosexualität als Sünde. Einen Schritt weiter ging nun der oberste Mufti Russlands: Er drohte Schwulen und Lesben öffentlich Prügel an, für den Fall, dass in Moskau eine Love-Parade stattfinden sollte.

Sollte es in Moskau zu einer Schwulen-Parade kommen, werde es „Massenproteste“ der russischen Muslime geben, erklärte Obermufti Talagat Tadschuddin gegenüber russischen Medien. Das Oberhaupt der Moslems drohte, er werde seine Glaubensbrüder dazu aufrufen, die Teilnehmer einer Love-Parade zu verprügeln. „Eine nicht-traditionelle sexuelle Orientierung ist ein Verbrechen vor Gott“, so der Mufti. Schon der Prophet Mohammed habe befohlen, Homosexuelle zu erschlagen, weil „ihre Tätigkeit zum Aussterben der Menschheit führt“.

Undenkbare Bekenntnisse

Talagat Tadschuddin gilt als Hardliner unter den russischen Muslimen, die nach den orthodoxen Christen die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Russland bilden. Ob sein Aufruf zur Gewalt gegen Schwule und Lesben überhaupt befolgt werden würde, darf bezweifelt werden. Denn eine ursprünglich für den Mai geplante Love-Parade in Moskau soll nun doch nicht genehmigt werden. Bürgermeister Juri Luschkow, ohne den in der Hauptstadt eigentlich nichts geht, hatte sich bereits gemeinsam mit der orthodoxen Kirche massiv gegen eine solche Parade ausgesprochen. Die Art und der Tonfall mit dem der russische Obermufti gegen die Homosexuellen wetterte, ist allerdings überraschend, und der Aufruf zur Gewalt ein handfester Skandal. Doch diese Null-Toleranz-Haltung gegenüber Schwulen und Lesben dürfte von der breiten Öffentlichkeit in Russland geteilt werden.

Anders als in anderen europäischen Metropolen gibt es in Moskau, das sich gerne als modern, urban und weltoffen präsentiert, keine offene Schwulen- oder Lesbenszene. Wer die Liebe zum gleichen Geschlecht zeigt, muss in Moskau und erst recht in der Provinz mit Anfeindungen und Diskriminierung rechnen. Für einen offenen Umgang mit Homosexualität scheint die russische Gesellschaft noch nicht bereit. Anders als im Westen wäre es in Russland undenkbar, dass sich ein führender Politiker offen oder auch nur indirekt zu seiner Homosexualität bekennt.

Kleine Fortschritte

Zur Zarenzeit wurde gleichgeschlechtliche Liebe mit Zwangsarbeit in Sibirien bestraft. Nicht viel milder sprangen die Sowjets mit Schwulen und Lesben um, die es nach offizieller Lesart im Arbeiter- und Bauernstaat gar nicht geben konnte. Männer, die Männer liebten, wurden mit bis zu acht Jahren Gefängnis bestraft. Später landeten die Unglücklichen in geschlossenen und berüchtigten psychiatrischen Anstalten. Noch bis Anfang der neunziger Jahre galt unter sowjetischen Psychiatern Homosexualität als Geisteskrankheit.

Erst 1993 wurde der Straftatbestand für Homos und Lesben aufgehoben. Dennoch sitzen Misstrauen und Unverständnis gegenüber sexuellen Minderheiten sehr tief. Nicht zuletzt auch wegen der dramatischen Entwicklung von AIDS. In den letzten Jahren unternahmen russische Parlamentarier zweimal den Versuch, Homosexualität wieder unter Strafe zu stellen. Doch die entsprechenden Gesetzentwürfe fanden in der Duma keine Mehrheit. Immerhin ein kleiner Fortschritt.