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Brandherd am Schwarzen Meer

Roman Goncharenko6. Mai 2014

Der Gewaltausbruch in Odessa hat viele überrascht. Die südukrainische Hafenstadt ist für Kiew wichtiger als Donezk im Osten des Landes. Vieles deutet darauf hin, dass Odessa zum nächsten Brandherd wird.

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Gewerkschaftshaus in Odessa (Foto: REUTERS/Gleb Garanich)
Bild: Reuters

Die Menschen in Odessa sind ratlos. Nach dem "schwarzen Freitag" gibt es immer noch mehr Fragen als Antworten, wie es zu der Katastrophe am 2. Mai kommen konnte. Bei Zusammenstößen zwischen prorussischen und proukrainischen Aktivisten in der südukrainischen Stadt starben rund 40 Menschen. Die meisten Opfer wurden beim Brand im Gewerkschaftshaus getötet. Ausländische Ermittler sollen helfen, die Wahrheit herauszufinden, teilte am Dienstag (06.05.2014) der ukrainische Innenminister Arsen Awakow mit.

Anders als in den ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk, wo bewaffnete prorussische Aktivisten immer mehr Städte und Verwaltungsgebäude kontrollieren, schien es in Odessa bis zuletzt ruhig zu sein. Es gab dort jedenfalls keine Kämpfe, bei denen Armeehubschrauber und Schützenpanzer eingesetzt wurden.

Schüsse aus Pistolen statt Eierwürfe

Straßenschlachten zwischen prorussischen und proukrainischen Aktivisten (Foto: REUTERS/Yevgeny Volokin)
Straßenschlachten zwischen prorussischen und proukrainischen AktivistenBild: Reuters

Doch unter der Oberfläche brodelte es schon lange. Bereits am 1. März hatten Unbekannte die blau-gelbe ukrainische Staatsflagge vom Haus der Gebietsverwaltung abgenommen und sie durch die Fahne der Region ersetzt. Aber die Behörden zogen wieder die ukrainische Fahne auf. Die wenig bekannte prorussische Organisation "Junge Einheit" forderte ein Referendum über mehr Autonomie für die Region. Der Anführer der Organisation, der 28-jährige Anton Davidtschenko, wurde Mitte März vom Geheimdienst SBU festgenommen. Er befindet sich in Untersuchungshaft.

Mitte April hieß es, prorussische Kräfte in Odessa hätten, ähnlich wie in der Ostukraine, eine "Volksrepublik" ausgerufen. Doch die Meldung wurde einen Tag später dementiert. Man wolle nur mehr Autonomie innerhalb der Ukraine, so die Aktivisten. Das bestätigen auch Umfragen. Drei Viertel der Menschen in der Region Odessa (78 Prozent) lehnen nach Angaben des Internationalen Kiewer Instituts für Soziologie einen Anschluss an Russland ab. Nur sieben Prozent sind dafür. Die Befragung wurde im Auftrag der Kiewer Wochenzeitung "Dserkalo tyschnja" durchgeführt und Mitte April veröffentlicht.

Seit Monaten gibt es in Odessa fast jede Woche Demonstrationen sowohl prorussischer als auch proukrainischer Aktivisten. Jedoch gehen immer nur einige hundert bis einige tausend Menschen auf die Straße. Krawalle hatte es bis vor Kurzem nicht gegeben. Doch die Lage änderte sich dramatisch. Statt ihre Gegner wie in den vergangenen Wochen mit Eiern zu bewerfen, schossen bei den Ausschreitungen am 2. Mai einige der prorussischen Demonstranten mit Pistolen. Mehrere proukrainische Aktivisten wurden getötet. Im Internet kursieren inzwischen Morddrohungen.

"Perle am Schwarzen Meer"

Vieles deutet darauf hin, dass nach Donezk und Luhansk nun Odessa zum nächsten Brandherd werden könnte. Dafür gibt es historische, wirtschaftliche und militärische Gründe. Ähnlich wie die im März von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim spielt Odessa eine große Rolle in der russischen Geschichte. Die Stadt, 1794 unter der Zarin Katharina der Großen gegründet, entwickelte sich schnell zu einer Handelsmetropole. Odessa mit seinen Sandstränden wird in unzähligen russischen Liedern als "Perle am Schwarzen Meer" besungen. Ukrainer stellen zwei Drittel der Bevölkerung. 30 Prozent der Menschen in der Millionenstadt sind ethnische Russen.

Der Hafen von Odessa ist auch ein wichtiger Industriestandort des Landes (Foto: Wikipedia)
Der Hafen von Odessa ist auch ein wichtiger Industriestandort des LandesBild: gemeinfrei

Odessa ist die drittgrößte Stadt der Ukraine und der wichtigste Schwarzmeerhafen des Landes. Von hier aus werden die wichtigsten Exportgüter wie Weizen, Kohle oder Stahlerzeugnisse in die ganze Welt verschifft. Hier beginnt die Erdöl-Pipeline, die bis nach Brody in der Westukraine führt. Über sie sollte eigentlich kaspisches Öl nach Europa gepumpt werden. Bisher wurde die Leitung aber nur in entgegengesetzter Richtung für russische Öllieferungen genutzt. Auch ein Terminal für Flüssiggas soll bei Odessa entstehen. Die Regierung in Kiew will so unabhängiger von russischem Gas werden.

Schließlich hat der Hafen von Odessa auch eine militärische Bedeutung. Nach dem Verlust der Basis in Sewastopol auf der Krim soll Odessa der neue Hauptstützpunkt für die ukrainische Marine werden.

Angst vor russischer Zange

All dies ist nun in Gefahr, sollte die ukrainische Regierung die Kontrolle über Odessa verlieren. Experten in Kiew warnen, ein Verlust Odessas hätte für die Wirtschaft des Landes deutlich schwerwiegendere Folgen als der drohende Verlust der Ostukraine.

Ukrainischen Medienberichten zufolge sollen hunderte prorussische Aktivisten mit Zügen und Bussen von der Krim nach Odessa gekommen sein. Deren Aufgabe sei es, die Lage in der Schwarzmeer-Metropole zu destabilisieren. Mit Sorge blicken viele Menschen in Odessa auch auf das nur rund 100 Kilometer entfernte Transnistrien. In dem von der Republik Moldau abtrünnigen Gebiet sind russische Soldaten stationiert. Demnach könnte Moskau von Transnistrien und von der Krim aus die Region Odessa und sogar die gesamte Südukraine in die Zange nehmen. Der Kampf um Odessa dürfte sich in den kommenden Tagen und Wochen verschärfen.