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Offene Kritik am chinesischen Sozialsytem

Fu Yue 26. August 2005

Seltene Dinge geschehen in China: Es wird offen Kritik geübt – am Gesundheitssystems und an der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Noch ungewöhnlicher ist: die Studien werden in den staatlichen Medien diskutiert.

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Immer mehr Chinesen sind arbeitslosBild: AP

Wahrscheinlich kommen nirgendwo auf der Welt mehr Kinder per Kaiserschnitt zur Welt als in China: In den dortigen Krankenhäusern ist es jedes zweite Baby. Ein besonders krasses Beispiel für die absurden Fehlentwicklungen im chinesischen Gesundheitssystem. Die

ausschließliche Orientierung am Gewinn lässt Ärzte eben auch dann zum Kaiserschnitt schreiten, wenn es medizinisch gar nicht nötig ist. Aber es lässt sich damit deutlich mehr Geld verdienen und zudem lassen sich die Geburten auch effizient planen und in die Kernarbeitszeiten legen.

Gesundheitssystem extrem ungerecht

Während aber auf der einen Seite unnötige Luxusmedizin angeboten wird, gehen weite Teile der Bevölkerung leer aus, heißt es in einem Bericht, den unlängst die Weltgesundheitsorganisation WHO gemeinsam mit chinesischen Forschern veröffentlicht hat. Darin wird das chinesische Gesundheitssystem als eines der ungerechtesten der Welt bezeichnet. Nur die Vermögenden haben Zugang zu medizinischer Versorgung. Selbst höhere Beamte würden durch Krankheitsfälle in der Familie finanziell ruiniert.

Björn Alpermann, China-Forscher am Ostasien-Institut der Universität Köln, erklärt: "Die Stadtbevölkerung ist noch zum großen Teil im Sozialsicherungssystem aufgefangen. Aber selbst innerhalb der Städter gibt es mittlerweile Gruppen, die aus diesem sozialen Netz herausfallen, wie zum Beispiel Wanderarbeiter oder Leute, die aus den staatlichen Einheiten entlassen werden oder nicht weiter beschäftigt werden können." Auch in den Städten würden sich Unterschichten herausbilden, die keinen Zugang mehr zu öffentlichen Dienstleistungen haben, ergänzt Alpermann. Der große Kontrast sei der zwischen Stadt und Land, bzw. zwischen der Ostküste, die relativ weit entwickelt sei und prosperiere, und dem eher zurückgebliebenen, weniger entwickelten Binnenland und den Westregionen, die noch weit abgeschlagen seien von der Entwicklung an der Küste, warnt er.

Soziale Stabilität in Gefahr

Das wachsende Einkommensgefälle zwischen Stadt und Land, zwischen Ost und West, aber auch zwischen Arm und Reich innerhalb der Städte ist das Thema eines aufrüttelnden Berichts des chinesischen Ministeriums für Arbeit und soziale Sicherung. Demzufolge lag im letzten Jahr das durchschnittliche Einkommen auf dem Land bei etwa 355 US-Dollar. Das ist weniger als ein Drittel des durchschnittlichen Einkommens in der Stadt. Tatsächlich warnen Regierungsberater in diesem Bericht davor, dass die Kluft zwischen Arm und Reich ab 2010 eine Grenze überschreiten könnte, jenseits der die soziale Stabilität gefährdet wäre. Schon jetzt besitzen die reichsten 10 Prozent der Stadteinwohner 45 Prozent des städtischen

Reichtums; die ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung nur 1,4 Prozent.

Das deutliche Wohlstandsgefälle lässt bereits heute immer mehr Reformverlierer auf die Straße gehen. Offiziell wurden im letzten Jahr mehr als 74.000 Proteste in China registriert, viele auf dem Land. Zwar hat die Zentralregierung in den letzten Jahren versucht, die Bauern durch Steuersenkungen zu entlasten. Aber sie scheint machtlos gegenüber der massiven Korruption und vor allem der Beschlagnahme von Land für undurchsichtige Immobilienprojekte.

Landreform notwendig

An diesem Punkt sollte die Regierung ansetzen, schlägt Björn Alpermann vor: "Eine der wichtigsten Maßnahmen wäre sicherlich die Stärkung des Landnutzungsrechts für die ländliche Bevölkerung, denn da ist immer noch ein Relikt der sozialistischen Planwirtschaft vorhanden: nämlich dass die Bauern über den Boden zwar nominell verfügen können, ihn aber eigentlich nur vom dörflichen Kollektiv gepachtet haben." Das bedeutet, dass ihre Nutzungsrechte nicht wirklich rechtlich abgesichert seien, weil vielfach gerade von der Seite der dörflichen Kollektive oder der Gemeinderegierung eingegriffen werde, betont Alpermann. "Das ist ein ganz großes Problem für die Absicherung der bäuerlichen Einkommen", befürchtet er.

Aus Furcht vor sozialen Unruhen plant China inzwischen Steuer-Erleichterungen für Niedriglohn-Empfänger. Künftig werden der Nachrichtenagentur Xinhua zufolge Steuern erst ab einem monatlichen Verdienst von 1500 Yuan - umgerechnet rund 150 Euro - fällig. Bisher lag die Grenze bereits bei 800 Yuan.

Kommunistische Fiktion aufrecht erhalten

Die ungewohnt offene Kritik an der ungerechten Vermögensverteilung, dem Gesundheitssystem und auch dem Bildungssystem in den chinesischen staatlichen Medien nährt Spekulationen über einen Kurswechsel der chinesischen Führung. Für manche China-Beobachter bahnt sich da sogar eine Abrechnung mit dem neoliberalen Kurs der früheren Regierung unter Jiang Zemin an.

Björn Alpermann aber sieht in der Berichterstattung nur einen vorübergehenden Verlust des Staates an Kontrolle über die Medien. Seiner Ansicht nach sind die Probleme in China so offensichtlich, dass die offiziellen Medien sie nicht mehr ignorieren könnten. Er ist jedoch überzeugt, dass die chinesische Führung an ihrer Politik der kleineren Zugeständnisse und strikten Kontrolle festhalten wird. Die Grundlegitimation des chinesischen Staates und der kommunistischen Herrschaft in China bestehe darin, dass sie die Fiktion eines kommunistischen Staates aufrecht erhalte, sagt Alpermann. "Und dazu gehört auch, dass sie sich bemühen, sozial ausgleichend zu wirken bzw. den Eindruck zu erwecken, dass man sozial ausgleichend wirkt."

Auf der anderen Seite müsse die chinesische Regierung den Kuchen, den es zu verteilen gilt - sprich: die gesamte Wirtschaft - weiter am Wachsen halten, betont Alpermann. Denn nur so könnten auch Hoffungen genährt werden. Auf diese Weise hätten auch diejenigen, die im Moment noch mit Einkommensverlust zu kämpfen haben, eine Hoffnung, dass sie vielleicht in ein paar Jahren oder in der nächsten Generation auch an dem Wirtschaftsaufschwung partizipieren können. Und das seien die beiden Aspekte, mit denen die kommunistische Partei sich an der Herrschaft hält. "Die grundlegende Herrschaftslegitimation hat sich nicht verändert mit der neuen Führung. Es ist höchstens eine Aspekt-Verschiebung, dass die jetzige neue Führungsgeneration unter Hu Jintao stärker ihr Profil zu schärfen versucht als eine Regierung, die sich um sozial Schwache kümmert", analysiert er. Faktisch habe sich an der Politik wenig geändert.