1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Oh Captain, my Captain"

Alexander Göbel11. Februar 2009

Der Mythos Abraham Lincoln und seine Bedeutung für die amerikanische Identität

https://p.dw.com/p/GqH4
Bild: AP

Spätestens nach der „Emancipation Proclamation“, die 1862 die Befreiung der Sklaven besiegelte, wurde Abraham Lincoln von den Afro-Amerikanern biblisch überhöht - "Vater Abraham" wurde er genannt, und auch "Moses". Heute wird der Mitbegründer der Republikanischen Partei von Angehörigen aller ethnischen Gruppen verehrt, von Konservativen und Liberalen ebenso wie von Linken. Doch der Mythos Abraham Lincoln hat einen Macher – seinen Zeitgenossen und Dichter Walt Whitman.

Oh Käpt’n, mein Käpt’n, zu End’ ist unsre Reis’
wir haben jedes Riff umschifft, der Sieg war unser Preis.
Am Kai entlang der Glockenklang, der Menge Lustgespinster;
das Auge folgt dem festen Kiel, der Barke, wild und finster.

Oh, Herz, oh mein Herze!

Oh Tropfen feucht und rot,wo auf dem Deck mein Käpt’n liegt,

gefallen, kalt und tot.

Abraham Lincoln und Walt Whitman – zwei prägende Figuren der amerikanischen Geschichte und für die amerikanische Identität. Beide lebten zur gleichen Zeit, teilten politische Ideen und Hoffnungen - doch sie trafen sich nie.

Walt Whitman
Walt Whitman setzte Abraham Lincoln mit dem Gedicht "Oh Captain, my Captain" in literarisches DenkmalBild: AP

Als der Dichter Walt Whitman 1865 von Lincolns Ermordung durch einen Südstaatensympathisanten erfuhr, widmete er ihm das Gedicht „Oh Captain, my Captain“. Es spricht von einem Kapitän, der sein Schiff durch schweren Sturm sicher in den Hafen gebracht hat, am Ende aber tot auf Deck liegt. Später verglich Whitman den Präsidenten, der an einem Karfreitag tödlich verwundet worden war, mit Jesus Christus .

Erhebe dich, mein Käpt’n und hör den Glockenton!
Steh auf - dir ist die Flagg’ gehißt, dich grüßt das Jagdhorn schon.
Mit Bändern, Blumen tausendfach der Hafen ist geschmückt
für dich allein. Es ruft nach dir die Menge hoch beglückt.

Oh Käpt’n, mein Vater!Mein Arm, dem Haupt zum Halt.

Im Traum nur liegst du auf dem Deck,gefallen, tot und kalt.

Nicht umsonst hat Barack Obama jüngst seinen Amtseid auf die Bibel geschworen, auf der schon die linke Hand seines Vorbildes ruhte – nämlich die des 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Unter schwierigsten Umständen hatte Abraham Lincoln im Bürgerkrieg die Union der Nord- und der Südstaaten wieder hergestellt – er war ein besonderer Präsident in einer schweren Zeit. Symbolischer könnten die Parallelen zu den heutigen Herausforderungen der USA in Zeiten der Finanzkrise und der Kriege in aller Welt kaum sein.

Mein Vater gibt nicht Antwort, sein Mund ist bleich und still.
Mein Vater spürt nicht meinen Arm, hat weder Puls noch Will.
Das Schiff, es geht vor Anker. Zu End’ ist seine Reis’,
zurück gekehrt nach wilder Fahrt - der Sieg, das war der Preis.

Ihr Ufer, jauchzt! Ihr Glocken, klingt!

Ich aber geh in Not

dahin, wo nun mein Käpt’n liegt,

gefallen, kalt und tot.

Whitmans Lyrik sollte wirken wie eine Therapie – eine Selbsttherapie des Autors und einer Therapie ihrer Leser: Der große Verlust, die tiefe Krise Amerikas wird sichtbar – aber gleichzeitig, so suggeriert Whitman, ist diese Krise zu bewältigen.

Whitmans Selbstbewusstsein spiegelt sich besonders in seinem großen Gedichtzyklus Leaves of Grass. Auch hier finden sich Gedichte, die den Tod Lincolns verarbeiten. So etwa When Lilacs Last on the Dooryard Bloom’d – das den Trauerzug des Sargs des toten Präsidenten durch die Bundesstaaten beschreibt.

Lincolns Mythos beruht nicht nur darauf, Amerika im wahrsten Sinne zu den Vereinigten Staaten gemacht zu haben. Es ist auch sein Werdegang, der die Menschen fasziniert – und natürlich auch Walt Whitman. Lincoln war der Prototyp des amerikanischen Self-Made Man, des ehrbaren, zielstrebigen Mannes, der aus einfachsten Verhältnissen kommt und bis in die höchsten Positionen aufsteigt: Der Ursprung des American Dream.

Lincolns poetischer Beobachter Walt Whitman war von vielen Einflüssen geprägt – von den Ideen radikaler Demokraten seiner Zeit, von Sozialkritik, Patriotismus und Solidaritätsethos; von seiner Tätigkeit als Journalist, die ihm die Vielfalt der amerikanischen Realität offenbarte, aber auch von den Transzendentalisten wie Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson, die in ihren Texten wiederum das souveräne Selbst feierten. Der so genannte zivile Ungehorsam hat in der Geschichte der US-amerikanischen Demokratie immer wieder eine große gespielt, so etwa bei der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King.

Selten ist diese besonders amerikanische Verbindung von Größe, Selbstbewusstsein und dem Glauben an etwas Höheres kraftvoller verarbeitet worden als in der Schlussszene des Films „Der Club der Toten Dichter“ aus dem Jahr 1990. Sie atmet den Geist Abraham Lincolns – und sie bezieht sich auf Whitmans Lyrik. So spricht der Englischlehrer John Keating mit seinen Schülern:

‚O Captain, mein Captain‘ Wer weiß, von wem das ist?. .. Wer weiß es?. .. Keine Ahnung?. .. Es ist aus einem Gedicht von Walt Whitman über Mr. Abraham Lincoln. Also, Sie sprechen mich entweder mit Mr. Keating an – oder, wenn Sie etwas mutiger sind, sagen Sie: ‚O Captain, mein Captain!‘

In der traditionellen, konservativen Welton Academy im US-Bundesstaat Vermont verblüfft der Englischlehrer John Keating seine Schüler mit seiner unkonventionellen Begeisterung für die Welt der Poesie. Er fordert sie zu selbständigem Handeln und freiem Denken auf – und genau diese Freiheit wird auf die Probe gestellt. Als sich ein Schüler das Leben nimmt, wird Keatings Erziehungsmethode dafür verantwortlich gemacht: bei unbedingtem Gehorsam wäre das nicht passiert. Die Mitglieder des „Clubs der toten Dichter“ werden, schon um sich selbst zu retten, dazu gedrängt, wider besseren Wissens eine vorgefertigte Erklärung zu unterschreiben, die Keating mit unwahren Behauptungen die alleinige Schuld in die Schuhe schiebt, worauf Keating die Schule verlassen muss.

Nachdem Keating noch einige persönliche Dinge aus seinem Klassenzimmer geholt hat und vom Schulleiter unhöflich zum Gehen aufgefordert wird, halten die Schüler den Druck ihres Gewissens nicht mehr aus. Sie steigen auf ihre Schreibtische und erweisen dem Lehrer, dem sie so viel verdanken, ihren seinen Respekt.

Walt Whitman wäre stolz gewesen auf diese Jungs – und Abraham Lincoln auch.