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Film

Senzow: "Ich habe gebrannt für diesen Film"

Sebastian Saam
9. September 2021

Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow zeigt in "Rhino", wie sich in der Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Verbrechen und Gewalt breitmachten.

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Regisseur Oleg Senzow
Oleg Senzow saß fünf Jahre lang in Russland im Gefängnis Bild: picture-alliance/dpa/T. Weller

Oleg Senzow galt als Ikone des Widerstands gegen Russlands Annexion der Krim. Im Mai 2014 wurde er wegen des Verdachts der Planung terroristischer Handlungen verhaftet und nach Moskau überstellt - und landete anschließend in einem russischen Straflager. Fünf Jahre war er dort inhaftiert, immer wieder forderten Filmschaffende aus ganz Europa seine Freilassung.

Im Rahmen eines Gefangenenaustausches wurde er im September 2019 freigelassen und kehrte in die Ukraine zurück. Jetzt meldet Senzow sich auf der Kinoleinwand zurück: mit "Rhino" - einem Film, der sich schonungslos mit der von Rechtlosigkeit, Verbrechen und Gewalt geprägten Ukraine der 1990er-Jahre auseinandersetzt. Denn nachdem die Sowjetunion zerfallen war, trat zunächst ein Machtvakuum ein. Gewalttätige Banden machten sich das zunutze, lang galt in der Ukraine das Gesetz des Stärkeren. Am 9. September feiert "Rhino" bei den Filmfestspielen in Venedig Premiere.

Im Gespräch mit der DW erzählt Oleg Senzow, warum ihn dieses Thematik seit Jahren umtreibt und er sie unbedingt auf die Leinwand bringen wollte - mit einem Hauptdarsteller, der für Kontroversen sorgen dürfte.

DW: "Rhino" ist Ihr erster Film seit rund zehn Jahren. Wie fühlt sich das an?

Oleg Senzow: Es ist so, als ich hätte ich mir selbst eine überfällige Schuldensumme zurückbezahlt. Ich habe innerlich immer gebrannt für diesen Film. Das hat in den vergangenen zehn Jahren nie aufgehört, trotz aller Schwierigkeiten, meiner Haft, dem Krieg in meinem Land.

Filmszene aus Rhino: Fünf Männer stehen vor einem brennenden Gebäude
Der Film "Rhino" war ein Herzensprojekt von SenzowBild: Yuriy Grigorovich

Das Drehbuch haben Sie vor Ihrer Haft geschrieben. Haben Sie es dann hinter Gittern noch einmal angefasst?

Ich habe das Skript im Gefängnis nicht verändert, obwohl ich dort sehr viel geschrieben habe - insgesamt vier neue Drehbücher. Aber in Haft beschäftigt man sich mit viel leichteren Geschichten, dort ist es schon dunkel genug. Ich schätze, hätte ich "Rhino" in meiner Zelle geschrieben, dann wäre die Handlung nur halb so heftig.

Warum blickt "Rhino" so tief in die Abgründe der ukrainischen Gesellschaft der 1990er-Jahre?

Es ist ein brutaler Film. Einfach deswegen, weil diese Zeit so war. Da gibt es nichts zu beschönigen oder zu verschweigen. Erst hat uns die Sowjetunion traumatisiert und dann die Übergangsjahre der 90er. Die Gesetzlosigkeit, die ich in "Rhino" zeige, war in Wirklichkeit sogar noch schlimmer. Heute leben wir in einem völlig anderen Land, aber nicht wenige in der Ukraine romantisieren diese Periode bis heute. Ich hingegen will sie mit "Rhino" völlig entromantisieren. Ich will sagen: Die Protagonisten im Film sind die "bad guys", ihr Leben war fürchterlich und alles andere als erstrebenswert. Es gibt bis heute keinen ukrainischen Film über diese Zeit, der sich dieser Thematik ehrlich und kompromisslos stellt.

Filmstill Rhino: Fünf Männer mit Schlagstöcken gehen nebeneinander her
Eine Filmszene aus "Rhino": Gewalt ist in den 1990ern an der Tagesordnung in der UkraineBild: Yuriy Grigorovich

Was macht das Leben Ihrer Hauptfigur, eines Kriminellen mit dem Spitznamen "Rhino", konkret so schlimm?

Die Person mi all ihren Veränderungen und inneren Widersprüchen ist das, was mich wirklich interessiert hat. In den 1990er-Jahren hat das Bandenwesen und Verbrechen unser Land regiert. In dieser rücksichtslosen Welt bewegt sich "Rhino". Ich selbst war in den 90ern kein Krimineller, aber ich kenne Leute, die es waren. Ich bin mit der Welt vertraut. Bei der Entwicklung der Hauptfigur hat mich vor allem auch die Frage interessiert: Wo finde ich bei all ihrer Brutalität auch ihre menschliche Seite? Denn jeder Mensch, auch wenn er schlimme Dinge tut, trägt auch etwas Gutes in sich.

Haben Sie das bei "Rhino" letztlich gefunden?

Ein altes Sprichwort sagt: Es ist besser eine Sache einmal zu sehen, als hundert Mal von ihr zu hören (lacht).

Bleiben wir beim Hauptdarsteller. Den haben Sie besetzt mit Serhij Filimonow, einem Laiendarsteller…

Mir war klar, dass ich unter den professionellen Schauspielern in der Ukraine niemanden finden würde, der auch nur annähernd in der Lage sein würde, sich in "Rhino" hineinzuversetzen. Also haben wir ehemalige Soldaten, Sportler oder Strafgefangene gecastet; Menschen, die sich in extremen Stresssituationen durchgesetzt haben. Man sieht es in ihren Augen, auch bei Serhij.

Filmstill aus Rhino: Fünf Männer mit Waffen liegen auf der Erde
Für seine Film castete Senzow viele LaiendarstellerBild: Yuriy Grigorovich

Filimonow war früher Sportler, Hooligan, Soldat und rechtsextremer Aktivist. Heute sieht er sich als Teil der Zivilgesellschaft und kämpft gegen Korruption. Aber hat Sie seine Vergangenheit nicht abgeschreckt?

Nein, genau das hatte ich gesucht. Jemanden, der im Leben verschiedene Kämpfe durchzustehen hatte, dessen Vergangenheit auch von negativen Erfahrungen überschattet ist. Jemanden, der innerlich gewachsen ist. Jemanden, der bereit ist, sich Herausforderungen zu stellen. Ich bin froh, dass wir ihn gefunden haben, denn er hat die körperliche und mentale Fitness, die für diese Rolle nötig war. Und: Er ist sogar ein ziemlich guter Schauspieler (grinst).

Auf seiner Brust steht "Victory or Valhalla" tätowiert. Im Film ist davon nichts zu sehen …

Das hätte auch nicht zu den 90er-Jahren in der Ukraine gepasst, das haben wir mit Schminke beim Dreh und dann auch in der Postproduktion übertüncht. Aber glauben Sie nicht, dass er von Anfang an Angst und Schrecken verbreitet hat. Ganz im Gegenteil: Zunächst sah er mir fast zu zahm aus, und ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn eines Tages für die Rolle auswählen würde. Er hatte da noch Bart und wog weniger. Letztlich aber gefiel er mir, wir haben ihn rasiert, und er hat für den Film zugenommen.

Filmstill Rhino: Ein Mann und eine Frau umarmen sich
Trotz zärtlicher Momente: Rhino ist ein Film voller Gewalt, so Senzow Bild: Yuriy Grigorovich

Sie sind jetzt wieder Filmemacher, aber viele verbinden Sie mit dem ukrainischen Widerstand gegen Russland. Sind Sie jetzt nicht auch Politiker?

Politik ist eigentlich gar nicht mein Ding. Aber ich nehme jetzt an öffentlichen Aktionen teil, die gegen die russische Aggression gerichtet sind. Darunter habe ich gelitten, und viele tun es bis heute. Viele sind gestorben und sterben leider immer noch. Mir geht es vor allem darum, dass die über 100 noch einsitzenden politischen Gefangenen in Russland freikommen. Ich war einer von ihnen. Aber ich gehöre keiner Partei an und sehe das auch nicht als meine Aufgabe.

Das Interview führte Sebastian Saam auf dem Odesa International Film Festival im August 2021.