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Oltmer: "Ein Auf und Ab"

Peter Hille29. Juli 2015

Flüchtlingsansturm, Zeltstädte, Kollaps des Systems? In Deutschland wird um den richtigen Umgang mit Asylbewerbern gestritten. Mehr Weitblick und Besonnenheit wünscht sich der Historiker Jochen Oltmer.

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Symbolbild Flüchtlinge in Deutschland (Photo: Ina Fassbender/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/I. Fassbender

DW: Herr Oltmer, in Deutschland wird intensiv über steigende Flüchtlingszahlen diskutiert. Ist Ihnen diese Debatte als Historiker zu aufgeregt, zu kurzsichtig?

Jochen Oltmer: Wenn man sich die Debatte anschaut, dann stellt man fest, dass sie zu einem guten Teil geschichtsblind und weltvergessen geführt wird. In den frühen 1990er Jahre etwa war die Zuwanderung insgesamt deutlich höher als heute. Auch in den späten 1960er Jahren und frühen 1970er Jahren gab es solche Höhepunkte von Zuwanderung. Zuletzt gab es sehr wenig Zuwanderung, 2006-2009 hatten wir teilweise mehr Abwanderung als Zuwanderung. Wenn man zurückblickt stellt man also fest: es gibt mal mehr, mal weniger Migration. Es muss jetzt nicht die Welt untergehen, weil wir derzeit mehr Asylzuwanderung haben. Es gibt immer wieder ein Auf und Ab.

Jochen Oltmer, Institut für Migrationsforschung, Universität Osnabrück (Photo: DW/Heiner Kiesel)
Der Historiker Jochen OltmerBild: DW/H. Kiesel

Aber weltweit sind doch mehr Menschen auf der Flucht als je zuvor?

Das sind Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Die Zählungen beginnen erst seit den 1950er Jahren. Und wir wissen, dass die Mandate des UNHCR in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen haben. Da kann man keine langfristigen Aussagen machen. Was wir erleben ist aber, dass es tatsächlich einen hohen Stand von Fluchtbewegungen weltweit gibt.

Steht Deutschland dabei im Zentrum eines Flüchtlingsstroms?

Europa und Deutschland sind von diesen Bewegungen relativ stark abgekoppelt. Der UNHCR spricht für 2014 von rund 60 Millionen Flüchtlingen und so genannten Binnenvertriebenen. Fast 90 Prozent dieser Flüchtlinge sind in Entwicklungsländern im globalen Süden aufgenommen worden. Anfang der 2000er Jahre war der Anteil des globalen Nordens bei der Flüchtlingsaufnahme noch wesentlich höher. Die ärmsten Länder weltweit nehmen die meisten Flüchtlinge auf.

Deutschland - Flüchtlingsunterkunft Dresden (Photo: Roland Halkasch/dpa )
Zelte und Decken: so bereitet sich Dresden auf Flüchtlinge vorBild: picture-alliance/dpa/R. Halkasch

Aber eigentlich würden viele Flüchtlinge lieber in reichere Länder gehen?

Es gibt auf jeden Fall eine enge Verbindung von wirtschaftlicher Konjunktur und Migration. Prosperierende Regionen haben in der Geschichte oft besonders viel Zuwanderung erlebt. Da gibt es ein Wechselverhältnis. Migration bedingt Innovation und wirtschaftliches Wachstum. Und Innovation und wirtschaftliches Wachstum bedingen Migration. Das muss man zusammen denken. Das zeigt sich immer wieder dort, wo man in die Global Cities schaut, die wachsenden Metropolen. Die Wahrnehmung von Migration ist jedoch eine andere. Migration wird eher als Risiko verstanden und weniger als Chance.

Manche Politiker warnen davor, dass Angst und Abneigung in Deutschland sogar in brutale Gewalt ausarten könnten, wie zu Beginn der 1990er Jahre. Schon jetzt gibt es zahlreiche Brandanschläge. Damals wurden mindestens 30 Migranten und Asylbewerber in Deutschland von Ausländerfeinden ermordet. Sehen Sie diese Gefahr?

Damals gab es die spezifische Konstellation der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, es gab intensive Diskussionen zur Stellung dieses neuen Deutschlands in der Welt, zu einer neuen deutschen Identität. Migration, Zuwanderung und Asyl wurden von großen Teilen der Politik und der Bevölkerung als Störung im Kontext dieser Debatten verstanden. Auch die wirtschaftliche Lage war nicht so günstig wie heute, das ist ein Unterschied. Die Debatte um Migration ist heute zwar auch weitgehend problembezogen, aber es gibt viel mehr Unterstützung, Spenden- und Hilfsbereitschaft als damals.

Krawalle um Flüchtlingslager in Dresden (photo: dpa)
Voller Hass: Krawalle vor einer Flüchtlingsunterkunft in DresdenBild: picture-alliance/dpa

Sollten wir uns einfach daran gewöhnen, dass es mehr Zuzug - und Wegzug - gibt, weil die Menschen mobiler geworden sind?

Was wir vor allem brauchen, sind Ziele von Migrations- und Flüchtlingspolitik, die auf eine längerfristige Perspektive verweisen. Wir sehen in Deutschland und Europa ein Bemühen, ein Herumwurschteln. Es werden einzelne Stellschrauben verändert, aber es gibt kein Konzept, keine Zielformulierung. Deshalb werden einzelne Instrumente ziellos angewendet. Das führt auf Dauer zu einem Akzeptanzproblem in der Bevölkerung. Niemand weiß, wohin Europa, wohin Deutschland bei dieser Frage steuern will.

Dr. Jochen Oltmer forscht zur Geschichte der Migration vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Er ist Professor für Neueste Geschichte am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.