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GesellschaftGlobal

Ist der Straßenname "Onkel Tom" rassistisch?

Nadine Wojcik
31. Juli 2020

Der Afrodeutsche Moses Pölking will die U-Bahn-Station "Onkel Toms Hütte" in Berlin umbenennen. Der Name sei beleidigend. Was spricht dafür, was dagegen?

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Das Straßenschild der Onkel-Tom-Straße in Berlin ist mit roter Farbe beschmiert (Foto: DW/Nadine Wojcik)
Nach Start der Online-Petition von Moses Pölking wurden die Schilder der Onkel-Tom-Straße in Berlin teilweise übermalt. Moses Pölking distanziert sich davonBild: DW/N. Wojcik

"'Onkel Tom' - das beleidigt mich"

Quer durch das Zentrum Berlins führt die Fahrt mit der U-Bahn der Linie 3 und endet schließlich in einem Dorf: in Zehlendorf. Die Luft ist kühler als in der hektischen Innenstadt, es weht eine frische Brise, die Badeseen sind nicht weit entfernt. Durchstreift man die Nachbarschaft rund um die U-Bahn-Station, entdeckt man stilvolle Siedlungen der Bauhaus-Ära; vor einer der Villen parkt ein in einen Schutzmantel verpackter Tesla in der Auffahrt.

Moses Pölking steht in dunkelblauem Trikot auf einem Basketballfeld; im Hintergrund ist ein Basketballkorb zu sehen (Foto: DJ SoulClap)
Profi-Basketballer Moses Pölking kämpft gegen "Onkel Toms Hütte"Bild: DJSoulClap

"Onkel Toms Hütte" heißt der U-Bahnhof im gediegenen Südwesten Berlins. Dagegen schlägt nun der Profi-Basketballer Moses Pölking Alarm. "Ich fühle mich davon beleidigt. Wenn ich hier vorbeifahre, habe immer ein unwohles Gefühl", sagt der 22-jährige Afrodeutsche. Ein unwohles Gefühl begleitet den gebürtigen Berliner bereits sein ganzes Leben. "Wie viel Zeit haben Sie?", fragt er sarkastisch und will wissen, wie sehr er ins Detail gehen soll, wenn er davon erzählt, wie viel Rassismus ihm, dem Sohn einer Kamerunerin und eines Deutschen, schon begegnet ist.

Er erzählt davon, wie er als Kind eine Schoko-Schaum-Süßigkeit angeboten bekommen habe, die damals in Deutschland mit dem rassistischen Begriff "N-kuss" benannt wurde, und davon, wie er als 16-Jähriger bei einem Auswärtsspiel mit Affenlauten und wedelnden Bananen "empfangen" wurde. "Das war schon hart", erinnert er sich. "Wenn ich Basketball spiele, vergesse ich alle Probleme. Doch in dem Moment war das Basketballspiel Teil des Problems."

"Onkel Tom": schmerzhaft und beleidigend

Der Name der Berliner U-Bahn-Station bezieht sich auf den US-amerikanischen Roman "Uncle Tom's Cabin" von Harriet Beecher Stowe aus dem Jahre 1852. Der Protagonist ist ein afroamerikanischer Sklave, gutmütig, devot und christlich. Von den Kindern wird er "Onkel Tom" genannt. Mehrfach wird er von einem Sklavenbesitzer zum nächsten verkauft - er begehrt niemals auf. Doch als er das Versteck zweier Sklavinnen verraten soll, die sich vor ihrem Master verstecken, der sie vergewaltigt hat, schweigt er und wird zu Tode geprügelt.

"Ein 'Onkel Tom' war ein Sklave, der sich bewusst entmenschlicht hat, um vor seinem Sklavenhalter nicht als Bedrohung wahrgenommen zu werden", schreibt Moses Pölking in seiner Online-Petition.

Fast 13.000 Menschen haben diese bislang unterzeichnet. Viele Schwarze würden mit "Onkel Tom" schmerzhafte Erfahrungen verbinden, der Begriff sei als "Verräter" eine Beleidigung in der schwarzen Community.

Weltbestseller gegen Sklaverei - aber trotzdem rassistisch?

Für Heinz Ickstadt, emeritierter Professor für nordamerikanische Literatur, ist "Onkel Toms Hütte" hingegen ein "sehr eindrucksvolles Buch" - mit klarer Haltung gegen Sklaverei. "Der Roman beinhaltet eine erstaunliche Analyse der Sklaverei als ein profitmachendes System, mit Analogien zur Lohnsklaverei des industriellen Nordens der USA." Kurz nach Erscheinen war es nach der Bibel das meistverkaufte Buch in den USA. Übersetzt in viele Sprachen wurde es zum Weltbestseller.

Schild der U-Bahn-Station "Onkel Toms Hütte" in Berlin. Im Hintergrund sind Geschäfte und ein Mann zu sehen, der auf sein Handy schaut (Foto: DW/N. Wojcik)
U-Bahn-Station "Onkel Toms Hütte" in Berlin: Diese Benennung wäre in den USA ein EklatBild: DW/N. Wojcik

"Als der Roman veröffentlicht wurde, gab es faktisch keine schwarze Leserschaft, Beecher Stowe richtete sich an das weiße Bewusstsein", so Ickstadt. Ihr Buch sei ein "sentimentaler Roman, der mit Mitteln des Gefühls versucht, Bewusstseinsänderung zu erzeugen. Die Sklaverei wird als ein Instrument angeklagt, das Familien auseinander reißt, Mütter von Kindern trennt und Hilflose zu Opfern macht". Weder Stil noch Kontext würden in die heutige Zeit passen - das müsse bei der heutigen Rezeption bedacht werden.

"Am Ende wird er ermordet - doch statt sich zu wehren, verzeiht er sterbend den Sklavenhaltern", empört sich Moses Pölking über die unterwürfige Haltung der Hauptfigur. Natürlich sei das Buch wichtig für die Abschaffung der Sklaverei gewesen. Aber: "Man kann gegen die Sklaverei und trotzdem rassistisch sein. In dem Buch finden sich viele rassistische Stereotype."

Wer entscheidet, was rassistisch ist?

Schild in Form eines Hauses, darauf steht "Onkel Toms Hütte", darunter ist ein Pferd mit Reiter zu sehen (Foto: DW/Nadine Wojcik)
Allgegenwärtig in Berlin-Zehlendorf: Auch der Reitverein trägt "Onkel Tom" im TitelBild: DW/N. Wojcik

Die Umbenennung der U-Bahn-Station sei längst überfällig, meint auch Professorin Marianne Bechhaus-Gerst: "Es hat über Jahrhunderte hinweg niemand auf das gehört, was schwarze Menschen zu sagen haben, wie verletzend bestimmte Bezeichnungen sind." Bislang habe die weiße Mehrheitsbevölkerung entschieden, was rassistisch sei - und was nicht, so die Afrikanistin von der Universität Köln.

In den USA ist der Begriff verpönt und es wäre heute unmöglich, irgendetwas nach "Uncle Tom" zu benennen. In der Umgebung der Berliner U-Bahn-Station ist fast alles nach ihm benannt: die Onkel-Tom-Siedlung, ein Burgerladen, ein Florist, eine Kaffeerösterei, ein Reisebüro - und auch die rund vier Kilometer lange Onkel-Tom-Straße. "Von mir aus kann es so bleiben", sagt vorsichtig ein älterer Anwohner. "Der Name ist eng mit der Atmosphäre hier verbunden, ich hänge sehr an der Siedlung."

Onkel-Tom-Siedlung Berlin: Benannt nach einem Ausflugslokal

Die U-Bahn-Station wurde 1929 eröffnet. U-Bahnhof und Straße wurden nach einem ehemaligen Berliner Ausflugslokal benannt, das 1884 gebaut und 1978 abgerissen wurde. Das ursprüngliche Wirtshaus Riemeister hieß im Volksmund "Onkel Toms Hütte", der Inhaber, mit Vornamen Thomas, soll ein Verehrer des gleichnamigen Buchs gewesen sein.

Ganz in der Nähe findet sich heute der Reiterverein "Onkel Toms Hütte". An diesem Sommerabend haben mehrere Reiter ihre Pferde ausgeritten. Wie stehen sie zur geforderten Umbenennung? "Schwieriges Thema", wiegelt eine Frau ab. "Ich sage ja eigentlich auch nur noch 'OTH'." "Soll bleiben", ruft eine 23-Jährige, die gerade von Reiterstiefeln in die Sneakers wechselt und demonstrativ mit den Augen rollt. "Ich finde das total überzogen. Es hat doch nie jemanden gestört! Auch meine schwarzen Freunde haben sich bislang nicht beschwert." 

Debatten um Straßennamen und Denkmäler entflammen

"Ich finde es großartig, dass im öffentlichen Raum plötzlich Geschichte wieder aus dem Dornröschenschlaf aufgeweckt wird und es zu einer wichtigen Diskussion darüber gekommen ist", meint Professorin Aleida Assmann. "Plötzlich sind Symbole wie Straßennamen und Denkmäler nicht mehr langweilig. Vielmehr sind sie in der derzeitigen Situation der Neuorientierung zur symbolischen Waffe geworden."

Aleida Assmann forscht unter anderem zu kollektivem Gedächtnis und Erinnerungsorten. "Onkel Toms Hütte" sei ein Erinnerungsort für die Anwohner an die einstige Ausflugshütte. "Wenn ich mir vorstelle, das wird jetzt durch einen neuen Namen ersetzt, dann würde da ein historisches Cluster beseitigt werden. Der vorherige Name wäre damit ausgelöscht, das wäre das Verschwinden einer Geschichte."

Blau leuchtendes U-Bahn-Schild "Onkel Toms Hütte" in Berlin (Foto: DW/Nadine Wojcik)
Streit um Symbole: Wer entscheidet, was rassistisch ist?Bild: DW/N. Wojcik

Infotafeln als Kompromiss?

Über die lokale Geschichte hinaus ist aus ihrer Sicht auch die Erinnerung an die globale Geschichte wichtig: Die Autorin Harriet Beecher Stowe war Teil der Abolitionismus-Bewegung, eine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei mit ähnlicher Durchschlagskraft wie heute Black Lives Matter, die sich Ende des 18. Jahrhunderts gründete. "Heute hat diese Bewegung keinen guten Ruf mehr, zum einen, weil das damals eine christliche Bewegung war und wir heute in einer säkularen Welt leben, zum anderen, weil es die Weißen waren, die für die Schwarzen gesprochen haben", ergänzt Assmann. Doch sei sie für die Menschenrechte in der damaligen Zeit weltweit sehr wichtig gewesen.

Austausch gesucht

Auch Moses Pölkings Petition sei wichtig. Statt einer Umbenennung spricht sich Assmann allerdings für eine Erweiterung der Namen aus - beispielsweise über Texttafeln: "Es geht nicht darum, die Bewegung mundtot zu machen, sondern um ein Lernen der Gesellschaft über die gemeinsame Geschichte."

Dialog ist auch dem Basketballer Pölking wichtig. Er weiß, wie verbunden sich viele Anwohner mit dem Namen fühlen. Gerne würde er sich auch mit Lokalpolitikern austauschen und öffentliche Diskussionen führen. Doch an seiner geforderten Umbenennung ist nicht zu rütteln.

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