1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Online allein reicht nicht

11. Oktober 2002

Neues Medium, neue Produkte. Erreicht Literatur eine höhere Evolutionsstufe, wenn sie ihren Weg ins Netz gefunden hat?

https://p.dw.com/p/2jyA
Keine Literatur hinter GlasBild: AP

Warum sollte ein Peter Handke seine Texte ins Internet stellen, wenn er mit diesen bei seinem Verlag gutes Geld
verdient? Diese Frage macht zwar deutlich, warum namhafte Autoren - von zeitweiligen Ausnahmen wie Rainald Goetz abgesehen - das neue Medium meiden. Das Phänomen "digitale Literatur" trifft sie aber nicht wirklich. Denn dabei geht es gerade um Formen der Dichtung, die speziell auf den Computer mit seinen multimedialen und interaktiven Möglichkeiten zugeschnitten ist. Zwischen zwei Buchdeckel kann sie deshalb immer nur in reduzierter Weise gepresst werden.

Einen Einblick in aktuelle Tendenzen dieser Anfang der 1990er Jahre entstandenen Kunst gibt eine CD-Rom, die dem Band "Literatur.digital" (Deutscher Taschenbuch Verlag, München) beigelegt ist. Auf dieser finden sich die zwanzig besten Beiträge des gleichnamigen Wettbewerbs, der 2001 von "T-online" und dem Deutschen Taschenbuch Verlag (dtv) veranstaltet wurde. Das von Roberto Simanowski herausgegebene Buch führt zudem vorzüglich in die kontroversenreiche Thematik ein.

Hyperfiktion und Assoziationsblaster

Was ist wirklich neu an "digitaler Literatur"? Über diese Frage wird seit einiger Zeit heftig gestritten. Nach Ansicht des deutschen PEN-Generalsekretärs Wilfried Schoeller wird das Internet die Literatur verändern und eine neue Kunstform hervorbringen: Die Moderne entsteht in Allianz zwischen Wort und Bild.

Für den Stuttgarter Literaturwissenschaftler Thomas Rothschild dagegen besteht das Neue nur darin, "dass jetzt jedermann schreiben und veröffentlichen kann". Die Kombination zwischen Schrift, Ton und Bild sei bereits von experimentellen Künstlern vorgemacht worden.

Multimedialität ist nur ein Aspekt der digitalen Literatur. Roberto Simanowski, der auch in diesem Jahr der Jury des Wettbewerbs "Literatur.digital" vorsitzt, nennt neben Hyperfiktion, bei welcher der Leser per Mausklick den Verlauf einer Geschichte mitbestimmt, noch Mitschreibprojekte. Beispielhaft sind hier der Assoziationsblaster "assoziations-blaster.de" und das Kollektiv-Tagebuch "tage-bau.de".

Viele Köche verderben den Brei?

Den Formen Hyperfiktion und Mitschreibeprojekte steht Simanowski allerdings skeptisch gegenüber: "Hyperfiktion ist meist zu beliebig und kollaborative Schreibprojekte neigen dazu, sich vom Publikum abzukapseln." Die Zukunft gehört dem Herausgeber des Online-Journals "dichtung-digital.de" zufolge Werken, die wieder verstärkt auf Autorschaft setzen und in interdisziplinären Teams entstehen.

Jürgen Daiber, Preisträger des Internet-Literaturpreises "Pegasus98" und Leiter einer elektronischen Schreibwerkstatt an der Universität Trier, stimmt dem zu: "Ich sehe in der Kooperation von Informatikern, Designern und Literaten eine große Chance. Der Erfolg hängt allerdings davon ab, ob die Textqualität gerettet werden kann."

Dass es den Netzliteraten zumindest in der Anfangszeit oftmals mehr um raffinierte technische Effekte als um die Sprache ging, kritisiert die Gewinnerin des Ettlinger Internet-Literaturwettbewerbs 1999 Susanne Berkenheger. Ihre Hypertexte "Zeit der Bombe" und "Hilfe!" gelten bereits heute neben den Arbeiten des Amerikaners Michael Joyce als Klassiker.

Berkenheger, die alle ihre Werke selbst programmiert, reizen in erster Linie die interaktiven Möglichkeiten des digitalen Mediums: "Für den Leser solle es so sein, wie wenn er im Theater zugleich zuschaut und auf der Bühne steht." Ihre Texte inszeniert sie zwar optisch, aber nicht multimedial: "Literatur spielt sich vor allem im Kopf ab, wenn Bild und Ton dazukommen, passiert bei mir nichts."

Auch Roland Kamzelak vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach, das sich gerade auf seine neue, auch technische Herausforderung vorbereitet, räumt ein: "Anfangs werden wir, um die Avantgarde einzufangen, so viel wie möglich sammeln. Erst wenn die Qualität lesbar wird, werden wir inhaltliche Kriterien entwickeln." (kas)