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Orientierungslos im Bundestag

Naomi Conrad22. Oktober 2013

Der Bundestag ist zum ersten Mal zusammengekommen - und mit ihm viele neue Abgeordnete. Eine davon ist Azize Tank - für sie ist das Herz der deutschen Demokratie noch ein Labyrinth mit vielen Irrwegen.

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Plenarsaal des Bundestages (Foto: REUTERS/Fabrizio Bensch)
Bild: Reuters

Die genaue Adresse ihres Büros zu nennen, das sei jetzt etwas schwierig, sagt Azize Tank und lacht: "Da müssen Sie leider warten, bis ich im Büro bin und auf das Schild gucken kann." Wenig später klingelt das Telefon: Die Linken-Politikerin hat ihr Ziel erreicht und kann die Koordinaten zu ihrem Zimmer im sechsten Stock des Abgeordnetenhauses durchgeben.

Ein Putzmann erklärt geduldig und routiniert den schnellsten Weg. "Ach, um diese Zeit verlaufen sich immer ganz viele von denen." Mit "denen" meint er die Abgeordneten, die wie Azize Tank zum ersten Mal gewählt wurden und sich noch im Labyrinth des Bundestages irgendwo zwischen Abgeordnetenbüro, Plenarsaal und Kantine verlaufen. Für sie begann mit der ersten Sitzung des Parlaments am Dienstag (22.10.2013) offiziell die Arbeit.

"Azize Tank, das reicht auch"

Verlaufen? Tank grinst und schüttelt den Kopf, um zu verneinen. Ihre langen, weißen Locken fliegen. Dass sie bislang immer den Weg gefunden habe, liege daran, dass ihre erfahrene Büroleiterin sehr genaue Anweisungen gebe. Das Büro ist noch ziemlich kahl, der Computer funktioniere nicht, sagt die 63-Jährige. Sie arbeitete bis zu ihrer Pensionierung 2009 rund 20 Jahre als Integrationsbeauftragte in Berlin.

Azize Tank, Die Linke (Foto: TRIALON/Thomas Kläber)
Azize Tank: Terminkalender schon ziemlich vollBild: Trialon/Thomas Kläber/Die Linke

Jetzt als Abgeordnete freue sie sich darauf, in ihrem Berliner Wahlkreis zu arbeiten und Projekte zu organisieren - auch wenn sie sich noch daran gewöhnen müsse, dass die Menschen jetzt manchmal "Abgeordnete" zu ihr sagen. "Ich sage dann: Azize Tank, das reicht auch." Denn es sei wichtig, auf Augenhöhe mit den Menschen zu bleiben, sich nicht als etwas Besonderes zu fühlen, nur weil man Parlamentarierin sei.

Auch der Fahrdienst, der den Abgeordneten bei Bedarf zur Verfügung steht, sei schon so eine Sache, sagt Tank. Es sei natürlich sehr praktisch, nicht selber fahren zu müssen und so während der Fahrt die vielen E-Mails und Nachrichten beantworten zu können, die jetzt unentwegt eintrudelten: Glückwünsche von Freunden zu ihrer Wahl oder von Vereinen und verschiedensten Gruppierungen, die sich vorstellen wollen. Auf ihrem Schreibtisch liegen zwei DVDs, die ein Filmunternehmen geschickt hat, im Schrank ein großer Schoko-Taler von einer Versicherungsgruppe. Abgeordnete sind begehrt.

Viele Anfragen und ein voller Terminkalender

Dann die Klausurtagung der Partei, die vielen Interviewanfragen, auch aus der Türkei. Ihr Geburtsland hat sie vor 30 Jahren verlassen. Der Terminkalender sei schon jetzt "ziemlich voll", sagt Tank. Aber es mache Spaß und die vielen Fragen würden ihre erfahreneren Kollegen geduldig und ausführlich beantworten.

Die Büroleiterin steckt den Kopf um die Tür: Es sei an der Zeit. In ein paar Minuten beginnt die konstituierende Sitzung des Bundestages, die feierliche Eröffnung des 18. Bundestages, Azize Tanks erste Amtshandlung sozusagen. Sie habe sich extra schick gemacht, sagt Tank, und zupft noch mal an ihrem roten Schal, der über dem Jackett hängt. Dann liest sie die SMS ihrer Tochter, die ihr alles Gute für den ersten Tag wünscht. Tank lächelt. Ihre Familie, sagt sie bestimmt, bleibe ihre absolute Priorität. "Kein Termin kann so wichtig sein, dass er nicht auch abgesagt werden kann."

Reichstagsgebäude (Foto:JOHN MACDOUGALL/AFP/Getty Images)
Ein Drittel der neuen Abgeordneten sind zum ersten Mal im BundestagBild: AFP/Getty Images

"Nicht, dass du noch bei der CDU landest"

Im Aufzug Richtung Plenarsaal steht Sahra Wagenknecht, stellvertretende Vorsitzende der Linken. Tank und Wagenknecht lächeln sich an. Wieder kommt das Gespräch auf das Labyrinth, das sich Bundestag nennt. Wagenknecht grinst: "Ach, bei mir war es am Anfang auch ganz schlimm: Ich habe einmal mein Büro angerufen und hatte überhaupt keine Ahnung, wo ich war." Ihre Mitarbeiter hätten sie aber retten können. Tanks Büroleiterin bringt ihre Abgeordnete zum Fahrstuhl: "Du musst nach links. Nicht, dass du noch bei der CDU landest."

Während die Abgeordneten ihre Plätze einnehmen - Tank in der hintersten Reihe der Linkenfraktion - werden sie von den Journalisten beobachtet, die sich auf der Pressetribüne positioniert haben. Als der Alterspräsident des Bundestages, Heinz Riesenhuber (CDU), die Sitzung eröffnet, blättern unten viele Abgeordnete in einem Büchlein mit schwarz-weißen Porträtfotos ihrer Kollegen. Es gibt viele neue Gesichter: 230 Abgeordnete, mehr ein Drittel des Parlaments, sitzen zum ersten Mal im Plenarsaal, sagt der wiedergewählte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in seiner Antrittsrede.

Mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund

Darunter deutlich mehr Frauen und junge Abgeordnete als zuvor, das begrüßt er ausdrücklich. Auch, dass viele Menschen wie Azize Tank einen Platz eingenommen haben. Menschen also, die im Ausland geboren wurden oder deren Eltern und Großeltern nach Deutschland eingewandert sind. Niemals zuvor habe ein deutsches Parlament so viele Abgeordnete mit Migrationshintergrund gezählt, sagt Lammert. Die Abgeordneten klatschen laut.

Deutschlands neues Parlament

In einer Pause drängen sich türkische Kamerateams um die CDU-Abgeordnete Cemile Giousouf, die auf Türkisch mit ihnen plaudert. Auch sie ist eine der Neuen im Bundestag. Im Plenarsaal gehen das Parlament und Azize Tank dann zu den Tagesordnungspunkten über. Ob schon Langeweile aufkommt? "Noch nicht", lautet ihre Antwort.