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Politik

Orthodoxe Frauen sind bereit für Feminismus

Miriam Dagan
7. März 2017

Ein neuer Feminismus macht sich in Israels ultraorthodoxer Gemeinde breit. Immer mehr Frauen arbeiten außer Haus, schlagen neue berufliche Wege ein- und damit geht unvermeidlich eine kulturelle Veränderung einher.

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Jüdisches Neujahrsfest Rosch Haschana
Bild: imago

Vor 23 Jahren war die Journalistin Rachel Fast-Klein eine der ersten ultraorthodoxen Frauen, die Zeitungsartikel mit ihrem vollem Namen unterzeichnete. Heute hat sie eine eigene Sendung bei einem Radio für Zuhörer der Haredi-Gemeinde, wie die Ultraorthodoxen in Israel genannt werden. In ihrer Welt ist es ungewöhnlich, dass eine Frau auf die öffentliche Bühne tritt - aber sie beschreibt ihren Durchbruch mit Bescheidenheit. "Es ist in Ordnung, dass man meine Stimme in der Öffentlichkeit hört," sagt sie. "Eigentlich ist nur das Singen in der Öffentlichkeit - vor Männern - verboten."

Die restriktive ultraorthodoxe Gemeinde macht elf Prozent der israelischen Bevölkerung aus. Sie hat aber entscheidenden Einfluss auf die breite Zivilgesellschaft. Die zwei Haredi-Parteien in der Knesset, Shas und Vereinigtes Thora-Judentum, sind beide aktuell an der Regierungskoalition beteiligt - Frauen sind bei ihnen nicht erlaubt. Die Liste der Diskriminierung ist lang: 2016 hat der Oberste Gerichtshof in einem ultraorthodoxen Viertel Jerusalems Schilder verboten, auf denen stand, dass Frauen die Nutzung der Hauptstraße untersagt wird. Frauen sollen nicht Autofahren - nicht einmal ein Drittel der Haredi-Frauen haben einen Führerschein, laut einem Bericht der Denkfabrik "Israel Democracy Institute."

Frauen nehmen Rolle des Verdieners ein

Aber die Haredi-Gesellschaft macht zur Zeit eine tiefgreifende Veränderung durch. Die Geburtenrate ist zwar bei durchschnittlich fast sieben Kindern immer noch sehr hoch, aber zum ersten Mal seit Jahrzehnten geht sie zurück. 2000 arbeitete noch weniger als die Hälfte der ultraorthodoxen Frauen außer Haus. 2015 war diese Zahl laut dem Bericht auf 78 Prozent angestiegen. Es war zwar schon immer gang und gäbe, dass die Frauen die Rolle des Verdieners einnehmen, damit die Männer sich dem Studium der Religion widmen können. Wachsender wirtschaftlicher Druck hat aber dazu geführt, dass mehr ultraorthodoxe Juden berufstätig wurden - vor allem Frauen.

Journalistin Rachel Fastag-Klein
Journalistin Rachel Fastag-Klein moderiert ihre RadiosendungBild: DW/M.Dagan

Heutzutage werden diese Frauen aktiv von High-Tech Firmen rekrutiert. Sie gehen sogar an Hochschulen, machen Abschlüsse, und erreichen damit einen höheren Bildungsgrad als die Männer. Sie arbeiten in Bereichen, denen sie früher fernblieben, wie Modedesign oder Sport, und sie gründen Organisationen für Frauen. Infolgedessen haben sie auch mehr Kontakt mit der Außenwelt. Und sie melden sich immer mehr zu Worte, sprechen Themen an, die früher tabu waren.

So wie Fastag-Klein, deren Sendung sich an weibliche Hörer richtet - obwohl auch Männer zuhören. Sie scheut sich nicht davor, Themen wie Kindesmisshandlung oder häusliche Gewalt anzusprechen. "Ich nennen es nur nicht so. Wenn ich zum Beispiel von Vergewaltigung spreche, sage ich 'unerhörte Vorkommnisse.' Aber jeder, der zuhört, weiß wovon ich spreche," erklärt sie. Für manche weibliche Anrufer ist Fastag-Kleins Sendung der einzige Ort, an dem sie um Rat bitten können. 

Haredi-Frauen wollen keine Revolution

Manche, wie die ultraorthodoxe Mutter vierer Kinder Michal Zernowitzki, gehen sogar in die Politik. "Es gibt noch keine weiblichen Entscheidungsträger - weder auf nationaler noch auf lokaler Ebene - in ultraorthodoxen Institutionen. Das muss sich ändern," sagt Zernowitzki, die Mitglied eines ultraorthodoxen Blocks in der israelischen Arbeiterpartei ist.

In den letzten Jahren gründeten Haredi-Frauen eine Gruppe namens "Lo Nivcharot, Lo Bocharot" - sie weigern sich, wählen zu gehen, wenn sie nicht auch kandidieren können. Und bei den letzten Wahlen stellte sich sogar eine neue, kleine ultraorthodoxe Frauenpartei auf. "Es passieren momentan große Veränderungen," sagt Zernowitzki, "Vor einigen Jahren, wenn ich bei ultraorthodoxen Frauen das Thema Politik angesprochen habe, wollten sie noch nicht einmal zuhören. Heute verstehen sie mich."

Es ist keine Revolution, denn die meisten ultraorthodoxen Frauen wollen keine Revolution. "Aber zweifellos findet ein Erwachen der Haredi-Frauen statt - es ist eine echte kulturelle Transformation," sagte der Haredi-Journalist Eli Bitan der Deutschen Welle. "Wir haben ein riesiges Problem der Ungleichheit der Geschlechter in unserer Gemeinde, aber Chauvinismus ist keine inhärente Eigenschaft der Ultraorthodoxen. Man kann sehr religiös sein und trotzdem Gleichheit anstreben."

Drahtseilakt zwischen Wunsch nach Veränderung und Widerstand gegen männliche Autorität

Darum geht es beim ultraorthodoxen Feminismus. Laut Bitan haben "Männer die ultraorthodoxen Frauen zur 'Superfrau' gemacht  - sie haben sie zur Arbeit geschickt, alles muss sie machen. Jetzt ist sie der erfolgreichere Mensch geworden." Doch für viele Haredi Frauen ist es ein Drahtseilakt: zwischen dem Wunsch nach Veränderung und dem Widerstand gegen männliche rabbinische Autorität auf der einen Seite, und dem Schutz der Werte, an die sie selbst fest glauben, auf der anderen. Die meisten identifizieren sich voll mit der Welt, aus der sie kommen - für sie ist es die authentische Form des Judentums - und akzeptieren ihre vielseitigen Rollen als Versorger, Mutter vieler Kinder und Hausfrau.

So wie Rachel Fastag-Klein: "I habe keinen Konflikt in meinem Leben, ich fühle mich ganz. Mein Mann - auch Haredi - und alle Menschen um mich herum unterstützen mich, auch wenn manche es komisch finden, was ich mache." Sie hat das Gefühl, dass es ihre Berufung ist, anderen Frauen mit ihrer Radiosendung zu helfen, aber die Grenzen des Fortschritts sind klar: "Dass Frauen an der Klagemauer beten oder mit den Männern zusammen in der Synagoge sitzen - das könnte ich niemals akzeptieren."