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Orthodoxe Kirchen: Gespaltenes Verhältnis zur Demokratie?

16. November 2006

Auf Einladung der Evangelischen Akademie Berlin diskutierten Wissenschaftler über die orthodoxen Kirchen in Europa und ihr Verhältnis zur Demokratie. Besonders Bulgarien und Russland wurden kritisiert.

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Bartholomäus I., der Patriarch von Konstantinopel gilt als Oberhaupt aller orthodoxen ChristenBild: picture-alliance / dpa/dpaweb

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes konnten die orthodoxen Kirchen Osteuropas bislang nur wenige Erfahrungen mit der modernen Demokratie sammeln. Doch für den Göttinger Theologen Martin Tamcke besitzt die Orthodoxe Kirche durchaus demokratische Grundlagen. "Wenn wir im Westen die Zentralisierung auf Rom haben, haben wir im Osten die Pentarchie. Das heißt, es gibt fünf Patriarchate gleichberechtigt nebeneinander: Konstantinopel, Antiochien, Alexandrien, Jerusalem und Rom. Das ist erst eine Entwicklung der späteren Kirchengeschichte, dass Rom sich angemaßt hat, eine besondere Rolle zu spielen."

Demokratischer als alle anderen?

Für Tamcke ist die Orthodoxie alles andere als eine überkommene Kirche, die in ihrer fast 2000 Jahre alten Tradition kaum in moderne Gesellschaften passt. Im Gegenteil, er hält die Orthodoxe Kirche in ihren Grundfesten sogar für demokratischer als die römisch-katholische.

Der Göttinger Theologe erklärt: "Heilig wird man in der Ostkirche durch die Verehrung des Volkes. Das wird dann unter Umständen legitimiert durch kirchliche Beschlüsse, aber nicht wie im Westen durch ein Verfahren mit einem advocatus diaboli, der prüft, ob man heilig ist oder nicht. Da sehe ich durchaus von der ersten Stunde an Elemente von Demokratie."

Bulgarien: Festhalten an uralten Regeln

Dennoch stehen die orthodoxen Kirchen auch in der Kritik. In Bulgarien zum Beispiel ist den geistlichen Würdenträgern ein politisches Engagement verboten, weil dies gegen die Kanonices, also die Synodenbeschlüsse aus den ersten Jahrhunderten der frühen Kirche verstößt. Der Theologe Ivan Dimitrov von der Universität Sofia erläutert: "Die offizielle Stellung der Kirche ist, dass Kleriker keine Teilnahme an Politik und weltlichen Ämtern haben sollen. Denn nach dem Gebot des Herrn darf niemand zwei Herrschern dienen. So heißt es im elften Kanon des Konzils von Konstantinopel aus dem Jahr 861. Ansonsten droht der Entzug der Priesterwürde."

Gerade dies aber widerspricht den Allgemeinen Menschenrechten, wonach jeder Mensch, auch ein Geistlicher, das Recht auf Zulassung zu öffentlichen Ämtern besitzt. Durch das Festhalten an den Jahrtausende alten Kirchengesetzen wirkt die bulgarische Kirche alles andere als aufgeschlossen für demokratische Grundprinzipien. Zudem gilt der Austritt aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen 1997 als Rückschritt hin zur Isolation.

Russland: Kirche billigt Tschetschenien-Krieg

Noch härter fällt die Kritik gegenüber der Russisch-Orthodoxen Kirche aus. Nach jahrzehntelanger Unterdrückung durch das Sowjetregime hat es die orthodoxe Kirche relativ schnell geschafft, sich quasi als Staatskirche zu etablieren. Heute erlebe man eine wenig demokratieförderliche Anbiederung an das Regime von Wladimir Putin, meint der Züricher Osteuropa-Experte Gerd Stricker: "Für Putins Wahlsieg war mit entscheidend, dass Patriarch Aleksej den Tschetschenienkrieg ganz im Sinne des neuen Patriotismus kirchlich verbrämte. Aleksej trug Putins Kampfruf in die Kirche und rechtfertigte den Tschetschenienkrieg auf diese Weise."

Trotz internationaler Kritik auch des Ökumenischen Weltkirchenrates und der Konferenz Europäischer Kirchen gab es in der Russisch-Orthodoxen Kirche bis heute kein Umlenken in der Tschetschenienfrage. Im Gegenteil, russische Kirche und Politik seien eine unheilige Allianz eingegangen, so die Meinung des Osteuropa-Experten Stricker: "Seit 1993 gibt es wieder eine Militärgeistlichkeit. Diese Militärgeistlichen, so wird in Russland häufig gesagt, ersetzen de facto die ehemaligen sowjetischen Politoffiziere, weil sie den Rekruten die neue orthodox-nationale Staatsideologie vermitteln sollen. Dass sie den Soldaten seelsorgerlich beistehen ist bis jetzt nicht bekannt geworden."

Die Tagungsteilnehmer waren sich jedoch einig: Trotz aller Auswüchse sollte man den orthodoxen Kirchen Osteuropas auch Zeit zugestehen, um sich in das für sie neue Demokratiesystem hineinzudenken.

Thomas Klatt
DW-RADIO, 15.11.2006, Fokus Ost-Südost