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Ostdeutsche Länder wehren sich gegen Thierses Kritik am Aufbau Ost

Bernd Grässler 19. Juni 2002

Es ist ein düsteres Bild, das der stellvertretende Vorsitzende der SPD Wolfgang Thierse in seinem Brief an führende ostdeutsche Genossen zeichnet.

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Manfred Stolpe, Ministerpräsident von Brandenburg: Thierses Papier ist depressiv.Bild: AP

Die wirtschaftliche und soziale Lage in den neuen Bundesländern stehe auf der Kippe, das Wirtschaftswachstum im Osten bleibe zurück, die Arbeitslosenquote sei auf das 2,3-fache der Quote im Weste gestiegen. Die konjunkturelle Abkopplung des Ostens und die damit verschärfte Ost-West-Spaltung des Arbeitsmarktes ließen die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus den neuen Ländern wieder steigen. Der entscheidende Zukunftsindikator, der Anteil der Investitionen an der Brutto-Wertschöpfung, sei rückläufig.

Eckdaten, die nicht neu sind, aber ein einseitiges Bild zeichnen, meint SPD-Generalsekretär Franz Müntefering:

"Das ist nicht abgestimmt. Das trifft auch nicht auf die Zustimmung bei mir, auch nicht auf die Zustimmung bei vielen andern. Da ist sehr pointiert auf Schwierigkeiten hingewiesen, aber da sind auch viele positive Entwicklungen nicht hinreichend gewürdigt."

Auch Wirtschaftsexperten wie Rolf Peffekoven, verweisen auf positivere Signale. Der Aufschwung habe inzwischen den Osten erreicht, meint das Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dies zeigten die Entwicklungen der Auftragseingänge und die Zunahme der Produktion. Die pro Kopf in Ostdeutschland erzielte Wirtschaftsleistung sei im Verhältnis zur alten Bundesrepublik von 33 Prozent im Jahr 1990 auf inzwischen 66 Prozent gestiegen. Unterstützung erhält Thierse aus den Gewerkschaften und Sozialverbänden. Der Präsident des deutschen Caritas-Verbandes, Helmut Puschmann, meint angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Lage in Ostdeutschland, er sei, bei allem, was geschaffen wurde, doch einigermaßen entsetzt, insbesondere über die Abwanderung junger Leute in den Westen.

Auf den Schlips getreten von Thierses Analyse fühlen sich die Landesregierungen in den neuen Bundesländern, die ihre Leistungen in Frage gestellt sehen. Der Regierungschef von Brandenburg, Manfred Stolpe, wie Thierse SPD-Mitglied, spricht von einem depressiven Papier, das wenig hilfreich sei. Thüringens CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel macht geltend, die Entwicklung in den einzelnen Bundesländern sei seit 1991 unterschiedlich verlaufen. Thüringen sei heute weiter als andere Länder. "Wir wollen Unterstützung, um weiterzukommn und nicht, um uns Subventionsmentalität anzueignen," so Vogel.

Ähnlich äußert sich Sachsens Finanzminister Kaio Schommer. Thierse fordert in seinem Brief eine neue Investitionsoffensive und eine Festschreibung der West-Ost-Transfers auf 3,5 Prozent des Brutto-Sozialprodukts, was bei einem angenommenen gesamtwirtschaftlichen Wachstum von drei Prozent schon im Jahre 2005 etwa 20 Milliarden Mark zusätzlich bedeuten würde. SPD-Generalsekretär Müntefering weist dies zurück.

"Natürlich, wenn man mehr Geld hätte, könnte man mehr machen. Aber man darf nicht allzu staatsgläubig sein an der Stelle und meinen, mit großen überwältigenden Investitionsprogrammen sei das alles voranzubringen. Ich glaube nicht, daß das die Lösung ist. Und im übrigen muss man sehen, dass natürlich auch im Westen, in der alten Bundesrepublik, die Regionen sehr unterschiedlich ausgestattet sind."

Auch der für die neuen Länder zuständige Staatsminister Rolf Schwanitz meldete sich zu Wort. Er wies Thierses Kritik am Aufbau Ost zurück, den der Bundeskanzler bei Amtsantritt zur chefsache erklärt hatte. Für den ostdeutschen CDU-Politiker Günter Nooke dagegen ist Thierses Brief eine Bankrotterklärung. Thierse habe die Notbremse ziehen wollen, weil bei den Sozialdemokraten der Aufbau Ost keine Rolle spiele. Zum Beispiel gehe es auch daraum, Standortansiedlungen für Ostdeutsche noch einmal zu favorisieren, sagte Nooke, und verwies auf Schröders Zurückhaltung beim Wettbewerb zwischen Hamburg und Rostock um die Ansiedlung eines Werkes, in dem das neue Superflugzeug von Airbus, der über 550 Passagiere fassende A 380 gebaut werden soll. Die Entscheidung der Flugzeugfirma fiel zugunsten des westdeutschen Hamburger und gegen die ostdeutsche Hafenstadt Rostock aus.