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Paavo Järvi: "Beethoven, immer ein Begriff!"

Martina Bertram1. Oktober 2013

Der estnische Maestro ist seit 2004 Künstlerischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie in Bremen. Mit der DW sprach er über die Arbeitsweise deutscher Orchester und die "deutsche Seele".

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Der Dirigent Paavo Järvi beim Beethovenfest 2007in Bonn (Foto: picture-alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

DW: Ihr musikalischer Weg begann in Estland. Welches Bild hatten Sie als Jugendlicher vom Heimatland Beethovens?

Paavo Järvi: Unser Bild von Deutschland war natürlich ein besonderes. Auf der einen Seite waren wir in der damaligen Sowjetunion beeinflusst von der einseitigen Propaganda über Deutschland und den Krieg. Als Musiker sahen wir andererseits, dass all unsere "Götter", von Wagner bis Richard Strauss, aus Deutschland oder dem deutschsprachigen Raum kamen. Alle großen Komponisten kamen aus Deutschland, also hatten wir einen klaren Blick dafür, was Deutschland für uns als Musiker bedeutete: Es war das Mekka für Kultur, Kunst und besonders für Musik.

Wir hatten keinen Zugang zu westlichen Medien. Wir wussten, Westdeutschland war ein hochentwickeltes kapitalistisches Land. Wenige waren vielleicht einmal in die DDR gereist. Selbst das war nicht einfach. Unser Deutschlandbild war immer eines aus zweiter Hand. Wir wuchsen hinter dem "Eisernen Vorhang" mit einer sehr starken einseitigen Propagandamaschinerie, insbesondere Film-Propaganda, auf. Es war Teil des Lebens, des Alltags. Wir kannten also auch Mythen über Deutschland. Für mich war es aber immer die Heimat von Beethoven.

Was ist anders an der Arbeit in Deutschland, etwa im Vergleich zu den USA?

Ich liebe es, in Deutschland zu arbeiten. Das hat berufliche und persönliche Gründe. Wir Esten haben historisch eine sehr starke Verbindung und Identifikation mit deutscher Kultur. Meine Großeltern etwa sprachen beide fließend Deutsch. Das Denken ist ähnlich, die Arbeitsethik, der Sinn für kulturelle Werte. Als jemand, der in Deutschland mit Musikern arbeitet, treffe ich hier auf eine Kombination aus tiefem Gefühl für Tradition und ausgeprägter Arbeitsethik, die dem Anspruch folgt, nicht nur das bare Minimum zu erreichen. Im deutschen Orchester stellen sie Fragen, sie wollen verstehen, was sie tun, warum sie es tun. Das ist der Schlüssel für ihr Tun. Sobald sie alles durchdacht und verstanden haben, können sie etwas von sich selbst geben, etwas sehr Persönliches, etwas sehr Kraftvolles. Ich glaube, viele auch sehr gute Orchester in anderen Ländern, insbesondere in den USA, sind etwas mehr mit technischen Fragen befasst und weniger damit, warum etwas wie ist.

Schumann, Beethoven, Bach – welcher deutsche Komponist prägt das Image Deutschlands in der Welt in besonderer Weise?

Mit Blick auf die gesellschaftliche Bekanntheit und Reputation ist Beethoven herausragend. Seine kraftvolle Musik ist universell geworden, das ist Bach und Schumann so nicht gelungen. Auch Menschen, die keine direkte Berührung zu klassischer Musik haben, ist Beethoven immer ein Begriff. Die Neunte Sinfonie, das Finale, das heute die Europahymne ist, das hat Beethoven am deutlichsten zu dem deutschen Komponisten gemacht.

Welches Stück eines deutschen Komponisten kennt in Estland jedes Kind?

Definitiv den letzten Satz von Beethovens Neunter Sinfonie – die kann jedes Kind singen. Egal, wie weit entfernt man zu Musik stehen mag. Estland hat eine ausgeprägte Musikkultur, viele studieren Musik oder singen in Chören. Dort ist jeder schon einmal mit Beethovens Neunter in Berührung gekommen.

Vermitteln Sie etwas über die "deutsche Seele", wenn Sie Schumann, Beethoven oder Bach dirigieren?

Absolut, und genau das ist zugleich die Schwierigkeit. Unser Ziel ist ja nicht das bloße Spielen der Noten. Es ist immer der Versuch, das, was dahinter im Verborgenen liegt, zum Vorschein zu bringen. Bei der Begegnung etwa mit den musikalischen Gesten der deutschen Romantik, kommt man an deren Literatur und Sprache nicht vorbei. Es gibt diese inhaltliche Verbindung von der Musik deutscher Komponisten zur Literatur und zur Sprache. Das ist gerade bei Schumann und auch bei Brahms sehr offensichtlich. Da gibt es etwas Einzigartiges, das etwas sehr Deutsches ist, das man fühlen und erkennen kann – wenn es gut gemacht ist. Genau das muss man herausholen. Ebenso schwierig ist es, genau herauszufinden, was französische oder russische Musik ausmacht. Aber genau darauf kommt es an.

Paavo Järvi ist ein vielfach ausgezeichneter estnischer Stardirigent und Grammy-Gewinner, Seit 2004 ist er Künstlerischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Darüber hinaus ist er unter anderem Musikdirektor des Orchestre de Paris. Paavo Järvi ist auch künstlerischer Berater des Estonian National Symphony Orchestra und des Järvi Sommer Festivals im estnischen Pärnu. Als Gastdirigent arbeitet er regelmäßig bei dem New York, Chicago und Los Angeles Symphony Orchestra, dem Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam, dem Philharmonic Orchestra London, den Wiener und Berliner Philharmonikern sowiie der Staatskappelle Dresden. Auf dem Beethovenfest Bonn 2013 leitete er die Aufführung der Oper "Fidelio" .

Das Interview führte Martina Bertram