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Pakistan ein Jahr nach der Flut

27. Juli 2011

Vor einem Jahr begann die Jahrhundertflut in Pakistan. Noch heute leiden Millionen Menschen unter den Folgen. Die Regierung wirkt hilflos. Doch ein Aufstand gegen die Macht-Eliten bleibt aus.

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Archiv: Mann zieht sich am Drahtseil durch das Hochwasser der pakistanischen Jahrhundertflut im Sommer 2010 (Foto: picture-alliance/dpa)
Verzweifelter Kampf gegen die FlutenBild: picture-alliance/dpa

Der Indus ist Pakistans Lebensader. Als er sich Ende Juli 2010 in den Fluch des Landes verwandelte, war Präsident Asif Ali Zardari gerade auf Europa-Tour. Das Staatsoberhaupt sah keinen Grund, seine Reisepläne zu ändern, während sein Land versank.

Pakistan erlebte die schlimmste Naturkatastrophe seit seiner Gründung 1947. Nach ungewöhnlich starken Monsun-Regenfällen schwollen der Indus und seine Nebenflüsse an. Die Wassermassen überrollten zuerst Städte und Dörfer in der Provinz Khyber Pakthunkhwa im Norden. Von dort aus wälzte sich die braune Flut mehrere Wochen lang in Richtung Süden, durch die Provinzen Punjab und Sindh, bis sie das Arabische Meer erreichte.

Etwa 2000 Menschen verloren ihr Leben. Fast zwei Millionen Häuser wurden dem Erdboden gleich gemacht, Felder wurden zerstört. Das Wasser vernichtete Ernten und tötete Vieh. Schulen, Brücken und Straßen wurden wie Spielzeug weggerissen.

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind ein Jahr später noch immer rund 16 Millionen Flutopfer auf Hilfe angewiesen. Etwa eine halbe Million ist nach wie vor obdachlos. Betroffen ist vor allem die verarmte Landbevölkerung.

Porträt der Pakistan-Expertin Farzana Shaikh vom Chatham House (Foto: Shaikh)
Dr. Farzana Shaikh zeichnet ein düsteres Bild von PakistanBild: Farzana Shaikh

"Krieg mit sich selbst"

Warum wehren die Menschen sich nicht gegen einen Staat, der ihnen kaum hilft? Pakistan-Expertin Farzana Shaikh von der Denkfabrik Chatham House in London lässt keinen Zweifel daran, dass sich Pakistan ein Jahr nach der Flut "in einer schlimmen Notlage befindet". Sie betont aber gleichzeitig, dass man Pakistan als ein Land "mit einer stark verwurzelten Oligarchie" begreifen müsse, der viele Menschen hörig seien.

"Diese Oligarchie ist stark genug, um das Land trotz aller Katastrophen vor dem totalen Kollaps zu bewahren." Doch wie lange noch? Auch gestürzte arabische Machthaber wie Tunesiens Ben Ali oder Ägyptens Mubarak saßen mit ihren Clans vermeintlich fest im Sattel.

Farzana Shaikh, die pakistanische Wurzeln hat, zeichnet im Gespräch mit DW-WORLD.DE ein düsteres Bild ihrer Heimat. Das Land werde immer konservativer und öffne sich immer stärker für "den militanten Islam". Die Politikwissenschaftlerin wagt keine Prognose. "Pakistan ist ein Land im Krieg mit sich selbst. Es ist zu diesem Zeitpunkt sehr schwer zu sagen, wer der Sieger sein wird".

"Zu simples Bild"

Pakistan ist im Sommer 2011 ein verwundetes, geschundenes Land: geschunden durch die Jahrhundertflut des vergangenen Jahres. Immer noch geschunden durch das schwere Erdbeben von 2005. Verwundet durch den anhaltenden Krieg gegen den Terror. Geplagt von einer chaotischen Regierung, die vor allem am Machterhalt interessiert ist. Zusammengehalten vom allmächtigen Militär, das die Rivalität mit Indien pflegt und deshalb auch radikale Islamisten unterstützt.

Archiv: Flutopfer kämpfen mit ausgestreckten Armen um Hilfslieferungen der Armee (Foto: AP)
Den Oligarchen hörig?Bild: AP

Diese verhängnisvolle Allianz wurde auch während der Indus-Flut sichtbar: Die Armee und die Hilfswerke islamistischer Parteien wie Jamaat-e-Islami und Jamaat ud-Dawa standen an der Spitze der Nothilfe. Die gewählte Regierung in der Hauptstadt und die staatliche Katastrophenschutzbehörde versagten beim Krisenmanagement.

Der deutsche Pakistan-Experte Dietrich Reetz vom Zentrum Moderner Orient in Berlin warnt dennoch vor einem zu simplen Bild des Landes und spricht von Parallelwelten. "Es gibt ein offizielles Pakistan mit mehr oder weniger funktionierenden Institutionen, und es gibt ein inoffizielles Pakistan, das immer noch das mächtigere ist."

In diesem "inoffiziellen Pakistan" zahlen die reichen Eliten keine Steuern und spinnen riesige Netzwerke von Günstlingen und Abhängigen. Die politische und wirtschaftliche Macht konzentriert sich in den Händen weniger Familien. Sie entscheiden, was in Pakistan passiert. Sie dominieren die Armee und die großen Parteien wie die pakistanische Volkspartei (PPP) oder die Muslimliga Nawaz (PMLN).

Doch im Gegensatz zu den Ländern, in denen der arabische Frühling Autokraten und Eliten weggespült hat, "gibt es in Pakistan viel freiere Medien, mehr Versammlungsfreiheit, mehr politische Wahlfreiheit und mehr Offenheit", sagt Dietrich Reetz. "Die Menschen organisieren sich in unterschiedlicher Weise sehr vielfältig, auch wenn sie nicht immer das erreichen, was sie erreichen wollen."

Porträt von Dr. Dietrich Reetz, Pakistan-Experte am Zentrum Moderner Orient in Berlin (Foto: Hiroki Mano)
Dr. Dietrich Reetz: "Pakistan ist vielschichtig"Bild: Hiroki Mano

Wut und soziale Ungleichheit

Es gibt in Pakistan Ventile, um Wut zu artikulieren und Dampf abzulassen. Doch das ändert nichts am schlechten Gesamtzustand. Die Flut des vergangenen Jahres hat die sozialen Ungleichheiten in Pakistan vertieft. Die Abhängigen sind noch abhängiger geworden.

Die Preise für Nahrungsmittel und Treibstoff explodieren, was vor allem die armen Schichten trifft. Die Wirtschaft taumelt. Pakistan hängt am Tropf seiner internationalen Geldgeber. Viele Entscheidungsträger gelten als wenig vertrauenswürdig. Der Wiederaufbau wird noch Jahre dauern. Weltbank und Asiatische Entwicklungsbank beziffern die Flutschäden mit über sechs Milliarden Euro.

Geringer Abstand zu Indien

"Pakistan hat aber auch großes Potenzial", sagt Dietrich Reetz. Der Wissenschaftler vom Zentrum Moderner Orient wagt den Vergleich mit dem benachbarten Erzrivalen Indien. Der zeitliche Abstand, mit denen beide Länder neue Technologien im Bereich Internet und Mobilfunk einführten, sei gering. "Die pakistanische Gesellschaft ist also durchaus in der Lage, sich neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu stellen - aber leider nicht so, dass auch alle etwas davon haben," schränkt Reetz ein.

Seine Londoner Kollegin Farzana Shaikh zählt die multiplen Brüche in der pakistanischen Gesellschaft auf: ethnische und religiöse sowie politische und familiäre Feindschaften, dazu Klassenfeindschaften. Staatsgründer Mohammed Ali Jinnah hat das Land 1947 als Heimstatt aller Muslime des indischen Subkontinents gegründet. Shaikh vertritt trotzdem die These, dass Pakistan "von Anfang an darunter gelitten hat, keine zusammenhängende nationale Vision und kein gemeinsames, nationales Ziel zu haben. Bis zum heutigen Tag muss man sich fragen, was es eigentlich genau bedeutet, pakistanisch zu sein."

Staat ohne Nation?

Die Analyse der Expertin aus dem Londoner Chatham House deutet darauf hin, dass sie Pakistan für einen gescheiterten Staat hält. Doch diesen Begriff lehnt sie "trotz aller strukturellen Schwächen, die ein Scheitern möglich machen", ab. Pakistan sei nicht Somalia. "Die internationale Gemeinschaft kann es sich nicht leisten, dieses Land scheitern zu lassen."

Der Westen hat ein starkes Eigeninteresse an größtmöglicher Stabilität. Ohne Pakistan ist ein Frieden im Nachbarland Afghanistan unvorstellbar. Ein Machtvakuum in Islamabad würde aber nicht nur die Region, sondern die internationale Gemeinschaft als Ganzes gefährden. Eine gescheiterte Atommacht mit rivalisierenden, radikalen Kräften wäre ein globaler Alptraum.

Pakistanisches Flutopfer beim Versuch, sein zerstörtes Haus aufzubauen (Foto: AP)
Schwieriger Wiederaufbau nach der FlutBild: AP

Die Politikwissenschaftlerin aus London unterstreicht die Eigenverantwortlichkeit der Pakistaner für ihr Schicksal. Ihr Berliner Kollege Dietrich Reetz erinnert an die destruktive Rolle des Auslands.

Interventionsschäden

Die anhaltende Intervention der Großmächte in der Region seit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 "hat im islamischen System und in der Region bleibende Schäden hinterlassen." Die radikal-islamischen Akteure, die während des Kalten Krieges mit großer westlicher Unterstützung gegen die sowjetischen Besatzer Kabuls gekämpft haben, seien nie demobilisiert worden und existierten im Untergrund weiter.

Dieser Untergrund spült viel Gewalt und Unsicherheit in die pakistanische Gesellschaft. Immer mehr Menschen, die ausgleichend wirken könnten, ziehen sich ins Private zurück, während die radikalen Stimmen lauter werden.

Autorin: Sandra Petersmann
Redaktion: Matthias von Hein