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Politik

Das Erbe des deutschen Kolonialismus

28. April 2019

Die Pariser Friedenskonferenz diskutierte im Frühjahr 1919 die Zukunft der Kolonien. Doch die Unabhängigkeit errangen afrikanische Staaten noch nicht - auch nicht die Kolonien des Kriegsverlierers Deutschland.

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Pariser Friedenskonferenz 1919 The Big Four
Bild: picture-alliance/AP Photo

Die Hoffnung war enorm: Nach Ende des Ersten Weltkriegs beobachteten die damaligen Kolonien gespannt, ob der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson seine Pläne für eine neue Weltordnung durchsetzen würde - dann wären die besetzten Gebiete der Unabhängigkeit einen Schritt näher. Seine Ideen hatte Wilson bereits mehrere Monate vor Kriegsende 1918 in seinen berühmten "Vierzehn Punkten" formuliert. 

Der Ton des Textes war ebenso neu wie sein Inhalt. Eine so entschiedene Absage an die Machtpolitik alten Stils hatte man bis dahin nicht vernommen, zumindest nicht aus der Feder eines der bedeutendsten Politiker seiner Zeit. 

So sprach der fünfte der "Vierzehn Punkte" von einem "freien, unbefangenen und völlig unparteiischen Ausgleich aller kolonialen Ansprüche". Für kommende Verhandlungen sollte der Grundsatz gelten, "dass beim Entscheid in solchen Souveränitätsfragen die Interessen der betreffenden Bevölkerungen ebenso ins Gewicht fallen, wie die berechtigten Ansprüche der Regierung, deren Rechtsanspruch zu entscheiden ist". In anderen Worten: Fortan würden auch die Stimmen der Kolonisierten endlich gehört.

Der Kolonialismus, so der auf die Geschichte Afrikas spezialisierte Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer, "ist generell ein rassistisches, ein strukturelles Unrechtssystem. Das gilt für alle europäischen Kolonialmächte. Ohne eingeladen worden zu sein, ging man in fremde Länder und Regionen und beansprucht diese als die eigenen. Anschließend nahm man sich, was man brauchte."

Die "Schwarze Armee" - Afrikaner im 1. Weltkrieg
Auch Afrikaner kämpften im Ersten Weltkrieg - wie diese Marokkaner in der französischen ArmeeBild: picture-alliance/Gusman/Leemage

Dieses System, so schien es, könnte mit dem Vierzehn-Punkte-Plan, der Pariser Friedenskonferenz 1919 und dem daraus resultierenden Vertrag von Versailles endgültig überwunden werden. Weltweit war die Begeisterung für Wilson groß. "Er hörte auf, ein Staatsmann zu sein", notierte der Schriftsteller H.G. Wells über den US-amerikanischen Präsidenten. "Er wurde ein Messias."

Deutsche Kolonien werden Völkerbund-Mandate

Für Furore sorgte auch Wilsons Vorschlag, eine neue internationale Instanz zu schaffen, die das Verhältnis der Staaten zueinander fair und unparteiisch regeln sollte: den Völkerbund. Dessen Gründung hatte der Präsident als eines der wichtigsten Ziele der internationalen Friedenskonferenz in Paris beschrieben, 1920 nahm der Bund seine Arbeit auf.

Der Großteil der Konferenz widmete sich der neuen Staatenordnung in Europa. Auf dem Programm stand aber auch der künftige Status der Kolonialgebiete der europäischen Mächte, allen voran die der Kriegsverlierer - und damit auch diejenigen des Deutschen Reichs. Die ehemaligen deutschen Kolonien hätten theoretisch selbständige Staaten werden können.

Die Afrikaner lernten jedoch schnell, dass die westlichen Mächte ihrem Unabhängigkeitsstreben weiterhin Grenzen setzten. So erklärte Jan Smuts, Premierminister der Südafrikanischen Union (der späteren Republik Südafrika), die ehemaligen deutschen Kolonialgebiete seien "von Barbaren bewohnt". Darum müsse man sie treuhänderisch verwalten. Die Teilnehmer der Friedenskonferenz verständigten sich schließlich darauf, die deutschen Kolonien in Mandatsgebiete des Völkerbundes zu verwandeln. 

Allerdings genossen nicht alle ehemals kolonisierten Territorien die gleichen Rechte. Smuts setzte durch, die Mandate mit unterschiedlichen Befugnissen auszustatten - je nach "Entwicklungsstand" der Gebiete und ihrer Bewohner - den freilich die westlichen Siegermächte definierten.

Willkürliche Grenzen - verheerende Folgen

An eine der zentralen Hinterlassenschaften des europäischen Kolonialismus wagten sich die in Paris versammelten Diplomaten ohnehin nicht: die willkürlichen Grenzen, die die Kolonialmächte überwiegend im 19. Jahrhundert gezogen hatten. Sie standen quer zur gesamten historischen Entwicklung zahlreicher Regionen des Kontinents.

Deutsch-Südwestafrika Hottentottenaufstand Hauptmann Willke
Deutsche Soldaten in Deutsch-Südwestafrika, deutsche Kolonie von 1884 bis 1915Bild: picture alliance/akg-images

"Diese Grenzziehung schaffte Staaten neu, und zwar mit gravierenden Folgen", so der Afrikanist Jürgen Zimmerer. "Denn diese Grenzen nahmen in der Regel keine Rücksicht auf lokale Strukturen. Gesellschaften, die traditionell verwandt oder miteinander befreundet waren, wurden durch koloniale Grenzen zerschnitten."

Umgekehrt sahen sich Gruppierungen, die traditionell in Konkurrenz standen, plötzlich in einem Staat vereint. "Die Minderheitenproblematik in vielen afrikanischen Staaten ist deshalb zu nicht geringen Teilen ein Resultat des Kolonialismus", so Zimmerer weiter. "Das ist eine schwere Hypothek. Denn auch jetzt will niemand die Kolonialgrenzen in Frage stellen. Man hat Angst, diesen Prozess nicht mehr kontrollieren zu können."

So war die Macht des Völkerbunds von vornherein beschränkt. Die oft gewalttätigen Folgen willkürlich gezogenen kolonialen Staatsgrenzen beschäftigen auch heute noch die Vereinten Nationen, seit Ende des Zweiten Weltkriegs Nachfolgeorganisation des Völkerbundes.

Der ungesühnte deutsche Völkermord in Namibia

Zum nicht bewältigten Erbe des deutschen Kolonialismus gehören auch herausragende Gewaltakte. So verübte das Deutsche Kaiserreich in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, zwischen 1904 und 1908 Völkermord an den Herero und Nama, die gegen die Fremdherrschaft kämpften. Bis zu 70.000 Menschen wurden getötet.

Zudem änderte das Deutsche Reich auch die Eigentumsverhältnisse in der Kolonie radikal. Es enteignete das gesamte Land der Herero und Nama und verkaufte es sukzessive an deutsche Siedler. Seitdem sind die meisten Herero und Nama Landlose - und zwar bis heute.

Mode gegen das Vergessen

Die Haltung der Bundesregierung dazu sei unbefriedigend und gefährlich, sagt Jürgen Zimmerer. "Es wird keine ernsthafte Aussöhnung geben, wenn man nicht Wege findet, das nachwirkende historische Unrecht, vor allem die Verarmung breiter Schichten, zu überwinden." Darum sei es ein Fehler, dass die Bundesregierung nur mit der namibischen Regierung verhandele und eine finanzielle Kompensation ausschließe. Deutschland müsse mit Vertretern der Herero und Nama direkt sprechen. 

"Tut man das nicht, riskiert man, die moderaten Kräfte beider Gruppen zu verlieren. An deren Stelle könnten dann Gruppen treten, die eine radikalere Lösung oder sogar eine Landbesetzung fordern. Das ist sehr gefährlich."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika