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Noch kein NATO-Bündnisfall

Christoph Hasselbach16. November 2015

Trotz der Kriegsrhetorik französischer Spitzenpolitiker sind die Anschläge des "Islamischen Staats" bisher kein Fall für eine kollektive Verteidigung der NATO. Das muss aber nicht so bleiben.

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NATO-Flaggen (Foto: John Thys/AFP/Getty Images)
Bild: John Thys/AFP/Getty Images

Frankreichs Staatspräsident François Hollande spricht von einem "Kriegsakt" durch die "terroristische Armee" des IS. Ministerpräsident Manuel Valls sagt, Frankreich befinde sich "im Krieg". Und vielleicht, so deutet Valls an, bald nicht nur Frankreich: "Wir wissen, dass Operationen auch gegen andere europäische Länder vorbereitet werden." Doch um militärischen Beistand der NATO-Verbündeten hat Frankreich bisher nicht gebeten. Der französische Botschafter in Deutschland, Philippe Etienne, hält im Deutschlandfunk fest, die Frage nach dem Bündnisfall "wurde in Frankreich nicht gestellt".

Auch von NATO-Seite hieß es lediglich: "Wir sind alle entschlossen, gegen die Bedrohung durch Terrorismus und Extremismus vorzugehen und diese zu besiegen", wie Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte. Von einem möglichen Fall kollektiver Verteidigung nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages war nicht die Rede. Darin heißt es, dass ein bewaffneter Angriff auf ein Mitglied als ein Angriff auf alle gewertet wird und alle anderen dem Angegriffenen militärisch zur Seite stehen.

Rettungskräfte vor Trümmern (Foto: Doug Kanter/AFP/Getty Images)
9/11 löste den bisher einzigen Bündnisfall ausBild: Doug Kanter/AFP/Getty Images

Hohe Hemmschwelle

Nur ein einziges Mal in ihrer 66-jährigen Geschichte wurde bei der NATO der Bündnisfall ausgerufen. Das war nach den Anschlägen in den USA vom 11. September 2001. Größere gemeinsame Militäroperationen blieben jedoch aus. Die Antwort des damaligen amerikanischen Präsidenten George Bush jr. auf die Anschläge war vor allem der Krieg in Afghanistan. Und dazu stellte er eine eigene Koalition zusammen. Die NATO trat in Afghanistan erst später auf den Plan und dann nicht im Rahmen des Artikels 5. Vergleichbar mit den jüngsten Anschlägen in Paris waren die Attentate 2004 auf Vorortzüge in Madrid mit 191 Toten und 2005 auf die Londoner U-Bahn mit 65 Toten. In beiden Fällen verzichteten die jeweiligen Regierungen aber darauf, militärischen Beistand der Verbündeten einzufordern.

Roland Freudenstein, Forschungsdirektor der Brüsseler Denkfabrik Martens Centre, glaubt zwar nicht, dass Frankreich zum jetzigen Zeitpunkt den Artikel 5 bemühen werde. Begründen ließe sich das aber schon. Im Gegensatz zu Madrid und London habe man es mit dem IS "jetzt wieder mit einer staatsähnlichen Entität zu tun". Das sei bei London und Madrid nicht unbedingt der Fall gewesen. Ohnehin müsse die "territoriumsbasierte" Definition eines Angreifers, wie man ihn bei der Gründung der NATO im Sinn gehabt habe, heute lockerer gefasst werden.

Kriegsbereite US-Republikaner

In der Republikanischen Partei in den USA hätte man nicht nur Verständnis, würde Frankreich die Verbündeten zu Hilfe rufen, einige würden sogar am liebsten selbst die Initiative ergreifen. Jeb Bush, Bruder des ehemaligen Präsidenten und einer der republikanischen Präsidentschaftsbewerber, fordert: "Wir sollten einen Krieg erklären." Dazu würden auch Bodentruppen gehören. "Aber wir können es nicht allein machen." Auch sein republikanischer Mitbewerber Marco Rubio meint: "Das ist ein Angriff auf einen unserer NATO-Verbündeten. Wir sollten uns auf Artikel 5 berufen und alle zusammenbringen, um sich dieser Herausforderung zu stellen." Präsident Barack Obamas Sicherheitsberater Ben Rhodes dagegen wies darauf hin, es sei Sache Frankreichs, den Bündnisfall zu beantragen. Obama selbst hatte einen Tag vor den Pariser Anschlägen gesagt, der IS sei "eingehegt" - eine Steilvorlage für seine Kritiker.

Manfred Weber, der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europaparlament, spricht in der "Passauer Neuen Presse" zwar nicht von einem möglichen Bündnisfall, aber "keine Option, auch die militärische, darf ausgeschlossen werden". Dagegen warnt Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor Überreaktionen. Beim Treffen der EU-Außenminister in Brüssel sagte er, "dass am Ende der Kampf gegen Terrorismus nicht militärisch gewonnen werden kann". Alle müssten sich "sehr selbst kontrollieren, dass wir aus dem Druck der Situation nicht falsche Entscheidungen treffen". Auch die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte das Verteidigungsbündnis am Sonntag zu "großer Ruhe und Besonnenheit" geraten.

Kampfflugzeuge (Foto: picture alliance/dpa/Ecpad Handout)
Experten sind sich einig: Luftangriffe allein können den IS nicht besiegenBild: picture alliance/dpa/Ecpad Handout

Angst vor weiteren Toten

Auch wenn die NATO bisher einen möglichen Bündnisfall nicht einmal diskutiert - die Forderungen in einzelnen NATO-Staaten nach einer militärischen Antwort auf den "Islamischen Staat" werden stärker. Was militärisch sinnvoll sein könnte, wären nach den Worten von Roland Freudenstein "kommandoartige 'Hit-and-run'-Schläge durch hochbewegliche, modern ausgerüstete Truppen" auch in den Kerngebieten des IS, wie sie die Amerikaner bereits durchführten, aber keine massiven Bodentruppen. Nur Luftangriffe reichten allerdings auch nicht aus.

Der Widerstand in den NATO-Staaten gegen Soldaten am Boden ist groß. Die Angst vor getöteten Soldaten spielt dabei ebenso eine Rolle wie die Sorge, der IS werde dann noch erbarmungsloser in den westlichen Ländern zuschlagen. Doch Angst vor neuen Anschlägen dürfe kein Kriterium sein, sich aus dem Konflikt militärisch herauszuhalten, findet Freudenstein: "Das hieße einzuknicken vor dem Terror." Politiker in den westlichen Ländern werden allerdings die Risiken sorgfältig abwägen, bevor sie mit einem größeren militärischen Engagement beginnen.