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"Allah hat mich ausgewählt"

Kersten Knipp21. November 2015

Was trieb die Attentäter von Paris? Die bisher bekannten Biographien lassen auf unterschiedliche, überwiegend persönlich-psychologische Motive schließen. Nur eines hatten die Täter nicht: eine solide religiöse Bildung.

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Abdelhamid Abaaoud mit Koran und einer Flaggee der Terrororganisation "Islamischer Staat" (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/Dabiq

Nett war er. Umgänglich, kommunikativ, aufgeschlossen. Nichts, was auf einen späteren Gewalttäter hindeutete. So beschreibt ein ehemaliger Mitschüler Abdelhamid Abaaoud, den Organisator der Anschläge von Paris. Damals, Ende der 1990er Jahre, saßen sie zusammen in einer Klasse des vornehmen Collège Saint-Pierre nahe Brüssel. "Er war einer von uns. Er wurde weder ausgegrenzt, noch begegnete ihm sonst jemand auf rassistische Weise", erinnert sich der Mitschüler. "Er machte gerne Dummheiten, flirtete mit den Mädchen, spielte Fußball", erzählt der Mitschüler der belgischen Zeitung "Sudinfo".

Abdelhamid Abaaoud hätte ein ganz normales, vielleicht sogar erfolgreiches Leben führen können. Das jedenfalls hatten die Eltern ihm gewünscht, die ihn darum auf das vornehme Brüsseler Gymnasium geschickt hatten - eine Schule, an der auch wohlhabende Belgier ihre Kinder anmeldeten. Dort fühlte sich der Junge offenbar wohl. Auf einem Klassenfoto aus dem Jahr 1999 sitzt er in der ersten Reihe am Rand. 12 Jahre ist er da - eine harmlos und freundlich wirkende Erscheinung, nichts deutet auf eine Karriere als Verbrecher hin.

"Ein kleiner Mistkerl"

Doch dann eine Veränderung: Er drangsalierte seine Mitschüler und Lehrer, stahl Geldbörsen, wurde rüde im Ton. "Ein kleiner Mistkerl", nennt ihn ein Klassenkamerad. Kurze Zeit später wurde Abaaoud kriminell. 2006 wird er wegen gewalttätigen Diebstahls zu einer Arbeitsstrafe, 2011 zu 18 Monaten Haft verurteilt. 2015, da ist er schon in Syrien, verurteilt ihn ein belgisches Gericht wegen Körperverletzung sowie Randalierens in der Brüsseler Metro zu 40 Monaten Haft. Bereits im März 2014 waren französische Journalisten an der türkisch-syrisch Grenze auf sein Mobiltelefon gestoßen. Es war voller Bilder. Zunächst noch das einer entblößten Frau auf einem Motorrad, dazu Fotos von Luxuslimousinen. Dann, in chronologisch späterer Folge, Bilder, die ihn als Dschihadisten zeigen, mit Waffen, in Kriegsmontur.

Schießerei bei Polizeiaktion in Saint-Denis Paris, 18.11.2015 (Foto: Reuters)
Eindruck machen um jeden Preis: Die Dschihadisten von Saint Denis werden von der Polizei umstelltBild: Reuters/J. Naegelen

Wo ist die Bruchstelle im Leben des jungen Mannes? Noch sind die Anhaltspunkte dürftig, lassen nicht mehr als Spekulationen zu. War es innere Haltlosigkeit? Oder maßlose Selbstüberschätzung? Das Interview, das er im Februar 2015 dem dschihadistischen Online-Magazin "Dabiq" gegeben hatte, lässt beide Interpretationen zu. "Allah hat mich ausgewählt", deutet er seine unentdeckten Reisen zwischen dem Nahen Osten und Europa. Dass ihm -den Geheimdiensten inzwischen bekannt - niemand auf die Spur kam, sieht er als höhere Gnade: "Das war nichts als eine Gabe Allahs."

Erregung, Berühmtheit, Ruhm

Die Fotos, die Abaaoud in Kämpferpose und mit den Leichen erschossener Gegner zeigen, lassen noch eine andere Deutung zu: Der Dschihadist suchte vor allem das Abenteuer. "Junge Leute, die sich in den späten 90er Jahren auf den Weg nach Afghanistan machten, um dort Osama Bin Laden zu folgen, faszinierte vor allem eines, schreibt der Terrorismusforscher Marc Sageman in seinem Buch "Leaderless Jihad" ("Führungsloser Dschihad"): "Sie suchten Erregung, Berühmtheit, Ruhm. Sie wollten ihre Freunde beeindrucken."

Phantasien und Emotionen, so Sageman weiter, seien wichtiger als klare Konzepte. Sageman berichtet aber auch von Kämpfern, die vor allem von einem getrieben wurden: dazu beizutragen, dass ihre Glaubensgenossen nicht leiden müssen. Auch das dürfte für einen Teil der in Syrien und dem Irak kämpfenden Dschihadisten gelten, zumindest in der Anfangsphase der Kriege, als Dschihadisten noch keine solchen Gräueltaten begingen, mit denen der "Islamische Staat" später für Entsetzen sorgte.

Symbolbild #notinmyname Muslime protestieren gegen Terrorismus (Foto: dpa)
"Nicht in meinem Namen": Muslime protestieren gegen DschihadismusBild: picture-alliance/dpa/D. Solanki

Die Lebensläufe der Pariser Attentäter legen dieses Motiv aber nicht nahe. Eher könnten (Selbst-)Bestätigung und Sinnsuche eine Rolle gespielt haben. Dazu passt ein Phänomen, das der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy in seinem Buch "La Sainte Ignorance" ("Heilige Einfalt") beschrieben hat: die Loslösung der Religion aus ihrem ursprünglichen kulturellen Kontext. Jede Religion, so Roys These, regele auch die gesellschaftliche Ordnung der Gläubigen. Dies sei aber bei dem in Europa angekommenden Islam nicht mehr der Fall: Ihm entspreche dort keine gesellschaftliche Ordnung mehr. Die Folge: religiöser Wildwuchs, fast schon Anarchie. Alles wird möglich, auch der Extremismus. "Der Verlust des kulturellen Umfelds lässt den Raum zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen zu einer Schranke werden. Sie haben weder gemeinsame Werte noch sonstige gemeinsame Orientierungspunkte."

"Nie in den Koran geschaut"

Die Folge: systematische Entfremdung, die Verwandlung des Anderen in einen Feind. Das wiederum gibt der eigenen Identität Schärfe und Form. Gut möglich, dass genau das - eine geschärfte Identität - die bislang einzige Frau im Umfeld der Pariser Terroristen gesucht hat: Hasna Ait Boulahcen. "Geschwätzig, in Chatrooms unterwegs und ein wenig verrückt" - so beschreibt sie ein Zeuge aus ihrem Umfeld. Die Kindheit habe sie zu großen Teilen in einer Pfegefamilie verbracht. Später, als junge Frau, habe sie getrunken, geraucht und viel mit Jungs zu tun gehabt. Religiös sei sie aber nicht gewesen, erklärt er dem belgischen Magazin "DH". "Sie lebte in ihrer eigenen Welt, hat sich für Religion nie ernsthaft interessiert und nie in den Koran geschaut."

Doch dann, vor einem halben Jahr: die Hinwendung zum Islam, rasend schnell. Erst der Hidschab, die Verschleierung des Körpers mit Ausnahme des Gesichts, Dann der Nikab, der auch dieses verschleiert. Zu dieser Zeit hatte Hasna, die sich bislang meist in Cowboystiefeln und Cowboyhut zeigte, die Pleite ihrer kleinen Konstruktionsfirma hinter sich. Wegen Drogenhandels hatte sie bereits mit der Polizei zu tun. Ein halbes Jahr später stirbt sie beim Anti-Terror-Einsatz im Pariser Vorort Saint Denis. Zuerst vermutete die Polizei, sie habe sich selbst in die Luft gesprengt. Offen blieb, ob sie durch die Detonation der Sprengstoffweste eines anderen starb oder durch Polizeieinheiten.

Ein "westliches" Elternhaus

In jedem Fall verliert Frankeich an Strahlkraft. Samy Amimour, einer der Terroristen, die im Konzertsaal "Bataclan" 89 Menschen erschossen, stammt aus einer "westlich" orientierten Familie: Die Mutter, eine aus Algerien stammende Berberin, ist Feministin. Der Vater hat mit Religion nichts zu tun. Amimour hatte einen französischen Abiturabschluss, Schwerpunkt Literatur. Doch er studiert nicht, stattdessen wird er Busfahrer.

Nicht auszuschließen, dass sein Beruf ihn mit dem Islam und dann dem Islamismus in Kontakt brachte. Unter den arabischstämmigen Angestellten der RATP, der Pariser Verkehrsbetriebe, berichtet die Zeitung "Le Monde", hätten sich in den letzten Jahren immer mehr dem islamischen Fundamentalismus zugewandt. Womöglich auch Samy, der ihn 2012 entdeckt. Im Herbst 2013 bricht er nach Syrien auf. "Papa. Du darfst nicht egoistisch sein", schreibt er von dort seinem Vater. "Du wolltest, dass ich Anwalt oder so etwas werde. Aber das ist eine fixe Idee. Hier mache ich, was ich will."