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Peru: höchste COVID-19-Mortalität weltweit?

Enrique Anarte | Jan D. Walter
8. September 2020

Ein schwaches Gesundheitssystem und die falschen Tests haben in Peru viele Menschenleben gekostet. Die höchste COVID-19-Mortalität der Welt könnte jedoch Produkt einer fragwürdigen statistischen Methodik sein.

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Peru Lima Coronavirus | Friedhof
Bild: picture-alliance/AP Photo/R. Abd

Lima am vergangenen Wochenende: Rund 120 Menschen feiern verbotenerweise in einer Diskothek, als die Polizei kommt, um die Feier zu beenden. Die Gäste ergreifen die Flucht, weil sie drastische Strafen fürchten und geraten in Panik. Mindestens 13 junge Menschen sterben in dem Gedränge.

Bereits Mitte März hat die peruanische Regierung eine weitreichende Kontakt- und Ausgangssperre verhängt. Polizei und Militär sind im Einsatz, um sie durchzusetzen. Nur im Juli gab es eine zeitweise Lockerung: Die Maßnahmen wurden auf die akute Situation in den jeweiligen Provinzen und Departements angepasst. Seit August zieht die Regierung die Zügel wieder an. Immer wieder berichten Medien von rigorosen Eingriffen der Sicherheitskräfte gegen Menschen, die die nächtliche Ausgangssperre brechen.

Dennoch ist Peru seit Ende August das Land mit der höchsten COVID-19-Mortalitätsrate der Welt. Auch Argentinien befindet sich seit Monaten im Lockdown, aber die Zahlen dort sind bisher deutlich niedriger. Die Ausbreitung der Epidemie in Peru scheint eher der in Brasilien zu ähneln, wo die Regierung weitgehend auf Zwangsmaßnahmen verzichtet hat.

Bedeuten hohe Zahlen auch gleich viele COVID-19-Tote?

Nach offiziellen Zahlen wurden in Peru bislang bei fast 700.000 der 33 Millionen Einwohner eine SARS-CoV-2-Infektion festgestellt. 30.000 Menschen seien an oder mit COVID-19 gestorben - schätzt die Regierung.

Das entspräche 90 Toten pro 100.000 Einwohner und wäre tatsächlich die derzeit höchste Mortalität der Welt. Allerdings beinhaltet diese Zahl mehr als 10.000 Verdachtsfälle.

Coronavirus - Peru - Intensivstation
Fast alle Intensiv-Betten in peruanischen Krankenhäusern sind für Corona-Patienten reserviertBild: picture-alliance/dpa/AP/R. Abd

"Wir befinden uns in Peru in der kalten Jahreszeit, Todesursache könnten in vielen Fällen auch viele andere, nicht diagnostizierte, Atemwegserkrankungen sein", sagt Rubén Mayorga von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation OPS der UN, verteidigt die Zahlen der Regierung aber als deutlich transparenter als anderswo. Auch die peruanische Regierung selbst argumentiert, die Mortalität in Peru sei nur deshalb die höchste der Welt, weil kein anderes Land die Zahlen so offen kommuniziere.

Die "Covidisierung" des Gesundheitssystems

César Ugarte von der renommierten Medizin-Universität Cayetano Heredia sieht das kritischer: "Ein nicht zu vernachlässigender Teil der Todesfälle hat bestimmt eher andere Ursachen." Ugarte beklagt eine vollkommene "Covidisierung" des peruanischen Gesundheitssystems: 400 Betten in dem Krankenhaus, in dem er arbeitet, seien für COVID-19-Patienten reserviert. Er befürchtet, dass die Behandlung anderer Erkrankungen darüber vernachlässigt wird.

Die ineffiziente Verteilung medizinischer Ressourcen trifft Peru besonders hart: Kaum ein Land in Südamerika investiere so wenig in sein Gesundheitssystem wie Peru, sagt der Ökonom Farid Matuk, der zeitweise in der COVID-19-Arbeitsgruppe des Gesundheitsministeriums saß.

Besonders eng könnte es für Patienten mit anderen Atemwegserkrankungen als COVID-19 werden: "Wir gehören zu den Ländern mit der geringsten Zahl an Intensivbetten und Beatmungsgeräten in Lateinamerika", sagt Mediziner Ugarte.

Doppelt so viele Tote wie in anderen Jahren

Die Zahl der Verstorbenen in Peru steigt seit einigen Jahren etwa im Takt des Bevölkerungszuwachses. Die Sterberate liegt weitgehend konstant zwischen fünf und sechs Prozent pro Jahr. In den ersten fünf Monaten der Epidemie lag die Sterberate etwa doppelt so hoch wie in normalen Monaten. Über 65.000 Menschen sind mehr gestorben als im Vorjahreszeitraum. Nimmt man also die 20.000 bestätigten Todesfälle mit COVID-19, bleiben 45.000 zusätzliche Todesfälle, für die bisher eine Erklärung fehlt.

Peru Lima | Coronavirus
Peru: Der Sarg eines COVID-19-Opfers wird mit einem Bagger zu Grabe gelassenBild: picture-alliance/dpa/R. Abd

Warum diese Menschen gestorben sind, kann auch Eduardo Gotuzzo, der Leiter des Alexander von Humboldt-Instituts für Tropenmedizin, nur vermuten: "Ich glaube schon, dass die Mehrheit an COVID-19 gestorben ist." Es seien aber wahrscheinlich auch mehr Menschen an Herzinfarkten, Schlaganfällen, Tuberkulose, Hirnblutungen und anderen akuten Erkrankungen gestorben als sonst, weil sie sich nicht getraut haben, ein Krankenhaus aufzusuchen oder dort keine medizinische Hilfe erhielten: "Seit fast sechs Monaten haben wir keine Krankenhäuser und Gesundheitszentren mehr mit normaler Patientenversorgung."

Fehlende und falsche Tests

Schon früh in der Krise hat Gotuzzo bemängelt, dass Peru - wie viele andere Länder auch - zu wenig testet, um alle Todesfälle zu klären. Zudem hat Peru hauptsächliche eine Testmethode verwendet, deren Ergebnis nur besagt, dass eine Person einmal infiziert war, nicht aber, ob sie akut infiziert ist. Dadurch sei es schwerer gewesen, Infektionszentren ausfindig zu machen und zu isolieren, ist im Online-Magazin RiffReporter zu lesen. Auch diese Methode lässt also keinen Rückschluss darauf zu, ob eine Person an, mit oder nach einer COVID-19-Infektion gestorben ist.

Mittlerweile, sagt Gotuzzo, habe das Gesundheitsministerium zwar begonnen, die Fälle aufzuarbeiten. Wie aber die Ursachen von rund 150.000 Todesfällen seit Beginn der Pandemie aufgeklärt werden sollen, die teilweise sechs Monate zurückliegen, dürfte auch den Experten noch nicht klar sein. Zumal kaum jemals nachzuvollziehen sein wird, wie viele Tode eher auf die Lockdown-Maßnahmen als auf die Pandemie selbst zurückzuführen sind. Denn in Peru leben fast drei Viertel der Bevölkerung von informeller Arbeit in der Landwirtschaft, dem Dienstleistungsgewerbe oder dem Handel. Viele Geschäfte dieser Sektoren liegen brach, die finanziellen Hilfen der Regierung erreichen viele Betroffene nicht. Mangelernährung und Zukunftsängste können die Folge sein. Die Zahl der Menschen in depressiven Zuständen habe bereits zugenommen, sagt Gotuzzo. All dies sind Umstände, die nachgewiesenermaßen das Immunsystem schwächen und somit bei Erkrankungen die Überlebenschancen senken - nicht nur bei COVID-19. Immerhin: Seit Mitte August, scheint die Sterblichkeitskurve wieder abzuflachen.

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.