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Literatur

Peter Handke: "Der kurze Brief zum langen Abschied"

6. Oktober 2018

Eine Reise quer durch das Amerika der 1970er Jahre. Der österreichische Autor Peter Handke schreibt von mühevoller Selbstfindung, der Suche nach dem verlorenen Bruder – und der Begegnung mit Regie-Legende John Ford.

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Porträt Peter Handke
Bild: Imago/Agencia EFE/C. Cabrera

Das Reiseziel ist Handkes Romanhelden verloren gegangen. Nur weg will er, woanders hin. Die handgreifliche Trennung von seiner Ex-Freundin Judith hat sein männliches Koordinatensystem mehr als gestört, ihre gemeinsame Amerikareise ein jähes Ende gefunden.

Ziellos, mit kleinem Gepäck und ohne Perspektive reist der schon erfolgreiche Bühnenautor und angehende Schriftsteller allein weiter, quer durch die USA.

"Während der Fahrt durch Neu-England hatte ich Zeit zu … was eigentlich? dachte ich. Ich verlor bald die Lust hinauszuschauen, weil die Farbe der Greyhoundbusscheiben die ganze Gegend verdüsterte.. Als ich die Fenster aufschieben wollte, um mehr zu sehen, sagte mir jemand, das würde die automatische Luftkühlung im Bus durcheinander bringen, und ich schob das Fenster wieder zu."

"Der kurze Brief zum langen Abschied" von Peter Handke

Literarische Selbstfindung

Der Zivilisationschock im konsumorientierten Amerika ist groß für den jungen Österreicher vom Lande. Er flüchtet in die nächtliche Stille der abgenutzten Motelzimmer. All seine Gedanken kreisen um seine latent neurotische Selbstbespiegelung – wie der Ventilator an der fleckigen Decke, die lange keine frische Farbe gesehen hat.

"Ich hatte das Buch schon weggelegt und lag in dem dunklen Zimmer. Die Klimaanlage rauschte leise, und allmählich begann ich mir zuzuschauen, wie ich einschlief. [...] Am nächsten Morgen stieg ich kurz vor Mittag in der Pennsylvania Station in den Zug der Penn Central Railway nach Philadelphia."

Die kleinteilige Gefühlswelt des Ich-Erzählers – in der Grundstimmung der literarischen "Neuen Empfindsamkeit" der frühen 1970er Jahre – ist das Epizentrum des schmalen Romans von Peter Handke.

Jede noch so banale Tätigkeit zerlegt er detailliert in akribisch notierte Einzelschritte. "Ging ich in ein Haus, so sagte ich statt: Ich ging ins Haus: "Ich putzte mir die Schuhe ab, drückte die Klinke nieder, stieß die Tür auf und ging hinein ..."

Peter Handke
Shootingstar im Literaturbetrieb: Schriftsteller Peter Handke auf der Frankfurter Buchmesse (1973)Bild: picture-alliance/dpa/Bildarchiv

Sehnsucht nach "Good Old Europe"

"Der kurze Brief zum langen Abschied" begleitet den modernen Romanhelden auf der mühevollen Reise zu sich selber, noch hat er seine Rolle nicht gefunden. In einem Anflug von unerträglichem Heimweh meldet er ein teures R-Gespräch nach Übersee an. Der rettende Anker für die uferlose Sehnsucht, die ihn nicht zur Ruhe kommen lässt.

"Der Hotel-Operator verband mich mit dem Übersee-Operator, dem ich die Telefonnummer der Nachbarin meiner Mutter in Österreich gab. Wollte ich ein persönliches Gespräch mit jemandem, oder sei es egal, wer sich melden würde, fragte der Operator? Das zweite koste weniger. "Es ist mir egal, wer sich meldet", sagte ich."

Die spontane Eingebung, seine frühere amerikanische Geliebte Claire im Mittleren Westen zu besuchen, durchbricht die Öde des ziellosen Vorsichhinreisens. Das Konkrete daran beruhigt ihn, gibt seinem Tun eine wohltuende Richtung.

"Ich fuhr gleich nach dem Frühstück los. Unterwegs  auf dem Provinzhighway hielten wir einmal, und ich kaufte in einem Discountladen ein paar Kassetten für die Polaroidkamera, die hier um die Hälfte billiger waren als an den Flughäfen, und für das Kind eine Mundharmonika. Für Claire etwas mitzubringen, das hätte sie nur verlegen gemacht."

Filmstill - PETER HANDKE - BIN IM WALD. KANN SEIN, DASS ICH MICH VERSPÄTE
"Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte": Filmstill aus dem Dokumentarfilm von Corinna Beltz (2016)Bild: zero one film

Unheilvolle familiäre Verstrickung

Hinter all den Episoden des Ich-Erzählers stehen – wie hinter Kulissen – ganz andere, existentiellere Probleme. Nach und nach treten sie nach vorn, drängen sich unausweichlich in sein Bewusstsein: Die Suche nach seinem verlorenen Bruder, der wortlos Dorf, Eltern, Familie verlassen hat und nach Amerika auswanderte. Seine Schreibkrise, die alles bisher Verfasste belanglos erscheinen lässt. Vieles klingt autobiografisch gefärbt, Hanke hat eigene Erfahrungen immer wieder einfließen lassen..

Peter Handkes Einstieg als junger Autor in das literarische Weltgeschehen Mitte der 1960er Jahre ist furios: Sein Erstlingsmanuskript "Die Hornissen" (1965), noch als Jurastudent verfasst, wird gleich vom renommierten Suhrkamp Verlag angenommen.

1966 macht ihn die Uraufführung seines Theaterstücks "Publikumsbeschimpfung" als Bühnenautor bekannt. Ermutigt durch den provozierenden Erfolg wirft Handke (Jg. 1942) der legendären "Gruppe 47" noch im gleichen Jahr "Beschreibungsimpotenz" vor. Ein Skandal.

Mit seinem berühmten Roman "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" (1970) legt der eher publikumsscheue Jungautor nach. Zusammen mit Wim Wenders, der seit der Schulzeit zu seinen engsten Freunde zählt, dreht Handke in München Filme ("3 LPs") und probiert sich in unterschiedlichen Genres aus.

Die schönen Tage von Aranjuez Foto von den Dreharbeiten
Mit Wim Wenders (hier bei Dreharbeiten zu "Die schönen Tage von Aranjuez") verbindet Handke eine lange FreundschaftBild: Donata Wenders

Literatur als Roadmovie

Die USA sind für die beiden ein fast mythischer Ort, die Weiten Amerikas erscheinen ihnen wie das gelobte Land, wo man unbedingt hinreisen musste. Die literarischen Figuren aus Handkes Büchern tauchen später in den Filmen von Wenders auf. Roadmovies, die sich in endlosen Kamerafahrten in der Landschaft Amerikas verlieren.

1971 wirft ein Familiendrama den jungen Schriftsteller aus der Bahn: Seine Mutter bringt sich um und entzieht sich so dem gewalttätigen Stiefvater, der auch Handke malträtiert hat. Die nachfolgende Lebenskrise verarbeitet Handke in seinem Buch "Wunschloses Unglück" (1972). Und in dieser Zeit entsteht sein biografisch grundierter Reiseroman "Der kurze Brief zum langen Abschied".

Die Suche nach dem, was für den Ich-Erzähler wirklich zählt, wird auch literarisch zum Focus: Die Begegnung mit dem greisen Hollywood-Regisseur John Ford, den Handke seit langem tief verehrte, und den er auch im wahren Leben in Kalifornien besucht hat, gehört für den Autor dazu.

 

Peter Handke: "Der kurze Brief zum langen Abschied" (1972), Suhrkamp Verlag

Der Österreicher Peter Handke, 1942 in Kärnten geboren, ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Nachkriegsgeneration.  Seine publizistischen Essays, mit denen er während des Bosnienkrieges Partei für die Serben bezog, lösten heftige Debatten aus und sind bis heute umstritten. Neben Romanen und Prosawerken hat Handke Gedichte und auch Drehbücher geschrieben. Zusammen mit seinem Freund Wim Wenders realisierte er zahlreiche Filmprojekte ( "Der Himmel über Berlin"/1987. "Die schönen Tage von Aranjuez"/2017). Der Schriftsteller lebt heute in der Nähe von Paris.