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Peter Maurer: "Das Rote Kreuz muss seine Grenzen kennen"

Kersten Knipp6. Mai 2013

An Kriegen und Konflikten sind immer mehr auch bewaffnete zivile Akteure beteiligt. Peter Maurer, Präsident des Internationalen Roten Kreuzes, sieht die Hilfsorganisation darum moralisch stark gefordert.

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Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, spricht auf dem St. Gallen Symposium, 3.5. 2013. (Foto: EPA)
Bild: picture-alliance/dpa

DW: Herr Maurer, das Internationale Rote Kreuz engagiert sich auf nahezu allen Kontinenten und dort jeweils in mehreren Ländern. Die Aktivitäten reichen von medizinischer Hilfe über Gefangenenbetreuung bis zur Versorgung mit Nahrungsmitteln, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Kommt die Organisation da nicht irgendwann an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit?

Wenn man auf die Karte schaut, scheint es, als wären wir an ganz vielen Orten. Aber wir sind ja innerhalb dieser Länder nicht flächendeckend aktiv. Wir sind oft dort, wo andere nicht hingehen und nicht hinkommen. Wir wollen nahe an der Bevölkerung sein, denn nur so können wir erkennen, was ihre Bedürfnisse sind. Dazu muss man nahe am Konflikt sein und mit allen Konfliktparteien sprechen. Darum sind wir dort, wo Schutz nötig ist: in den Gefängnissen, auf den Schlachtfeldern und in den Konfliktzonen, in den Städten – also überall, wo Gewalt herrscht. Wir sind dort, wo es am kritischsten ist. Das zwingt uns zur Fokussierung. Und dann ist es auch möglich, etwas zu bewirken.

Dabei schützen wir uns nicht mit Waffen, sondern verhandeln über Zugang. All dies bildet eine Einheit, die zwar vielfältig aussieht, sich über 150 Jahre aber immer wieder bewährt hat. Mit der Zeit ändern sich natürlich die Bedürfnisse, es kommt zu neuen Entwicklungen. Doch es scheint mir bemerkenswert, dass die heutigen Konflikte, trotz aller neuen Phänomene, die gleichen humanitären Auswirkungen wie im 19. und 20. Jahrhundert haben. Und man kann teilweise mit den gleichen Erfahrungen auch in neuen Bereichen effektiv tätig werden.

Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich die klassischen Konfliktlinien stark verändert: Es stehen sich immer weniger reguläre Armeen gegenüber. Stattdessen treten immer mehr bewaffnete zivile Akteure auf den Plan. Diese Entwicklungen kann man derzeit etwa in Syrien beobachten. Wie reagiert das Internationale Rote Kreuz darauf?

Es ist natürlich eine ständige Herausforderung, mit diesen neuen Akteuren zu tun zu haben, die zum Teil auch anders als staatliche Akteure auftreten. Letztlich ist aber das IKRK die einzige Organisation, die staatlich legitimiert ist, mit bewaffneten Gruppierungen über humanitäre Fragen zu diskutieren und sich zu engagieren. Das ist die Essenz dessen, was die Genfer Konventionen von 1949 in Artikel 3 sagt: Ein neutraler und unabhängiger Akteur soll mit allen bewaffneten Gruppierungen - ob reguläre Armeen oder bewaffnete Gruppierungen mit sonstigem Charakter - sprechen dürfen. Er soll befugt sein, mit ihnen die Werte des humanitären Völkerrechtes und die entsprechenden Normen zu erörtern. Und er soll darauf hinweisen können, wenn humanitäres Völkerrecht in militärischen Operationen verletzt wird.

Das führt oft zu einer Gratwanderung. Man muss mit gewissen Dilemmata leben. Doch das IKRK kennt die Grenzen seines Engagements. Und der Sinn dieses Engagements ist nicht einfach, mit allen diesen Gruppierungen zu reden. Es kommt vielmehr darauf an, sich mit denen, die ein Territorium und dessen Bevölkerung mit Waffengewalt kontrollieren, so zu verständigen, dass wir als unabhängige, unpolitische und neutrale Akteure Zugang zur Bevölkerung haben. Nicht politisch, sondern glaubhaft neutral, unabhängig und unparteiisch zu sein - das ist die Essenz aller Arbeit des IKRK.

Sie haben die "Dilemmata" angesprochen, in die das IKRK geraten kann. Worum geht es da genau?

Als humanitäre Akteure sind wir praktisch jeden Tag mit schwierigen Entscheidungen konfrontiert: Wann sollen wir schweigen, wann müssen wir reden, mit wem müssen wir reden, wie müssen wir die Normen verfolgen? Dürfen wir, sollen wir, müssen wir Soldaten pflegen? Und was soll man tun, wenn die Soldaten gesund sind und wieder in den Kampf zurück gehen? Wo ist die Verantwortung? Mir scheint, es gibt keine zuvor festgelegten Lösungen zu diesen Konflikten. Ich glaube aber, aus der Erfahrung heraus gibt es gewisse ethische Richtlinien – zum Beispiel in der medizinischen Versorgung, in der Art und Weise, wie wir mit diesen Akteuren reden. Aber absolute und vorher festgelegte Grenzen gibt es nicht. Letztlich ist entscheidend, dass wir die Bedürfnisse von Menschen in Konfliktsituationen so objektiv wie möglich analysieren und abdecken. Wir können es uns hingegen nicht leisten, politisch gefärbte Analysen zu erstellen.

Das IKRK engagiert sich auf allen Kontinenten. Welche Rolle spielen dabei die oft beschworenen "kulturellen Unterschiede"?

Alles, was einer wirksamen und effektiven Hilfeleistung im Wege steht, hat eine Relevanz und muss diskutiert werden. Wir müssen immer wieder aufpassen, dass wir die Absolutheit unserer Normen nicht einfach predigen, sondern im Kontext erklären. Wir engagieren uns in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Es ist nicht das Gleiche, ob Sie in einem asiatischen Konflikt stehen, oder in gewissen Ländern in Afrika oder in Syrien. Um humanitäre Werte zu verwirklichen, müssen Sie die jeweilige Sprache und Denkweise verstehen. Wenn Sie Ihr Anliegen mitteilen wollen, müssen Sie sich gut überlegen, welche Rezeptoren Ihr Gegenüber hat. Das geht nicht anders, als auf dieses Gegenüber einzugehen. Das bedeutet nicht, dass man zu faulen Kompromissen bereit ist. Doch man muss fähig sein, die Kernanliegen den jeweiligen Kontexten anzupassen.

Peter Maurer war von 2004 – 2010 Chef der Ständigen Mission der Schweiz bei den Vereinten Nationen. Seit dem 1. Juli 2012 ist er Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.