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"Wehklagen der Fleischindustrie ist Unsinn"

22. August 2020

Vor drei Monaten schaute Deutschland empört auf seine Fleischindustrie. Pfarrer Peter Kossen stand als "Anwalt" von Arbeitsmigranten an vorderster Protestfront. Im DW-Gespräch zieht er eine düstere Bilanz.

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Patrick Peter Kossen demonstriert vor dem Eingangstor von Westfleisch in Coesfeld
Bild: DW/M. Soric

Corona-Ausbrüche, miserable Arbeitsbedingungen für Leiharbeiter aus Osteuropa: Als die deutsche Fleischindustrie für negative Schlagzeilen sorgte, stand der katholische Pfarrer Peter Kossen als Anwalt von Arbeitsmigranten gegen die Konzerne auf. So demonstrierte der 52-jährige unter anderem vor dem Werkstor der Firma "Westfleisch" in der westfälischen Kreisstadt Coesfeld bei Münster. Seit langem prangert Kossen Ausbeutung und sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse in den Schlachthäusern an. Der streitbare und populäre Mahner wird von Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet an diesem Sonntag mit dem Verdienstorden des Landes auszeichnet.

Deutsche Welle: Pfarrer Kossen, hat sich nach Ihrer Ansicht in der Fleischindustrie strukturell etwas geändert? Oder sitzen die Konzerne die für sie lästige Kritik aus? 

Man hat wohl einige Sicherheitsmaßnahmen eingezogen, um einen erneuten Lockdown, wie es ihn ja an mehreren Standorten gab, zu verhindern. Denn es ist natürlich katastrophal, wenn ein Betrieb wochenlang stillsteht. Und es wirkt so, als würden nun Arbeitskräfte regelmäßiger getestet. Aber es gibt das Wehklagen der Fleischindustrie, dass demnächst alles wirtschaftlich nicht mehr darstellbar sei. Das halte ich für blanken Unsinn. Die Wohnsituation der Arbeiter ändert sich nur langsam. Das, was man jahrelang laufen gelassen und bewusst auch für Mietwucher und Ausbeutung genutzt hat, kann man gar nicht rasch umstellen. Es finden sich nicht so leicht Wohnungen, die wirklich das Prädikat "Wohnung" oder "menschenwürdig" verdienen. Es ist einiges in Bewegung geraten. Aber für die Situation der Werksvertragsarbeiter in der Fleischindustrie oder auch im Gemüseanbau hat sich meines Erachtens noch nicht viel verbessert.

Die Konzerne haben wieder Selbstverpflichtungen angekündigt.

Genau die sind Teil des Problems. Nach meiner Wahrnehmung macht man von Konzern-Seite an einer bestimmten Stelle etwas Vorzeigbares. Man reduziert an einem Standort beispielsweise den Anteil der Leiharbeit oder von Werksverträgen und setzt etwas mehr Stammbelegschaft ein. Aber an anderen Standorten des gleichen Konzerns – und das trifft für mehrere Konzerne zu – wirtschaftet man genauso brutal weiter wie bisher. Solche Selbstverpflichtungserklärungen sind nicht Ausdruck von einem Sinneswandel oder von Menschlichkeit. Sie dienen als Feigenblatt, um die Öffentlichkeit, die Politik zu beschwichtigen. Dahinter macht man weiter wie bisher. Man versucht halt, neue Gesetze zu verhindern. Aber es braucht gesetzliche Regelungen.

Wie Arbeiter in Deutschland ausgebeutet werden

Gab es Politiker, die an Ihrer Einschätzung interessiert waren?

Als ich auf meiner früheren Stelle im Oldenburger Land begann, zu protestieren und Öffentlichkeit herzustellen, taten Lokalpolitiker das ab: der Kossen hätte doch keine Ahnung. Aber schon damals hatte ich Kontakte zur niedersächsischen Landesregierung. Auch Ministerpräsident Stephan Weil war an meiner Expertise interessiert. Aktuell hatte ich Kontakt mit Nordrhein-Westfalens Arbeitsminister Karl-Josef Laumann und der Regierungspräsidentin Dorothee Feller in Münster. In den vergangenen Tagen ließ Bundesarbeitsminister Hubertus Heil einen Telefontermin vereinbaren und meldete sich dann bei mir. Auf dieser Ebene kommt etwas in Bewegung. 

Ihr Engagement scheint viele Menschen zu beeindrucken, ganz unabhängig, ob sie kirchlich gebunden sind oder nicht. Ein Priester, der so deutlich Partei für Menschen am Rande der Gesellschaft ergreift. Was treibt Sie an? 

Ich würde mich am liebsten biblisch verorten. In unserer jüdisch-christlichen Tradition gehört es von den alttestamentlichen Propheten und auch von den neutestamentlichen Texten zu unserer DNA als Christinnen und Christen, dass wir auf soziale Verwerfungen aufmerksam machen. Das haben die Prophetinnen und Propheten aller Zeiten getan. Sie haben die Gesellschaft darauf gestoßen, dass Teile von ihr auf Kosten anderer leben.

Priester Peter Kossen
Sozialpfarrer Peter Kossen mit Aktenordnern zum Thema "Sozialrecht" und "Arbeitsrecht". Er berät Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa, die unter schwierigen Arbeitsverhältnissen leiden. Bild: picture-alliance/dpa/F. Gentsch

Daneben würde ich mich einem Wort unterordnen, das mal von Papst Franziskus kam: Geht an die Ränder der Gesellschaft! Darum bemühe ich mich. So bin ich eher bei den Randständigen anzutreffen, als in der bürgerlichen Mitte. Gewiss, ich komme aus dieser Mitte, und das Leben, das ich als Pfarrer führe, ist zunächst einmal ein sehr bürgerliches. Aber ich bemühe mich, dort am Rand angetroffen werden zu können und sichtbar für die Betroffenen Partei zu ergreifen.

Das passt ja zu vielen kirchenoffiziellen Worten.

Aber in einem bürgerlichen Milieu ist das auch anstößig und gefällt längst nicht jedem. Man hat es vielleicht ganz gern, wenn man dieses kirchliche Engagement irgendwo in Lateinamerika wahrnimmt, in Afrika oder Asien. Je weiter weg, desto besser kann man damit leben, wenn sich Priester politisch anwaltschaftlich engagieren und deutliche Botschaften formulieren. Aber je näher das kommt, desto schwerer können Kirchenmenschen mit mir leben - wenn hier in Deutschland Fragen wachgerufen und es Kritik an der Gesellschaft gibt, in der sich unsere Kirche ja ganz gut eingerichtet hat. Für manche ist das ein Ärgernis, sobald ein Priester Missstände beim Namen nennt und deutlich macht, wo die politisch Verantwortlichen sitzen. In der klassischen politischen Zuordnung ist das eher links, mag sein.

Kirche verändert sich derzeit. Würden Sie sich wünschen, dass sich auch Geistliche in anderen Bereichen oder anderen Ländern ähnlich solidarisieren? Oder dass auch mal ein Bischof neben Ihnen gestanden hätte?

Ja, unbedingt. Bei aller Kritik an und aller Infragestellung von Kirche, die es heute gibt - diese Solidarität mit unterprivilegierten Menschen ist etwas, das uns die Gesellschaft noch zutraut und dass sie auch von Kirchenleuten erwartet: Dass sie anwaltschaftlich tätig sind, dass sie Lobby sind für jene, die keine Lobby haben. Das ist Kernbereich von Kirche, das ist die DNA des Christlichen. Die Not, die Ungerechtigkeit, die sozialen Verwerfungen müssen ein Stachel sein, der uns geradezu empört, Hauptamtliche der Kirche, aber auch alle Christinnen und Christen. Diese Empörung leitet und motiviert mich, aber sie lässt mir auch keine Ruhe. Und das muss weltweit gelten.

Als Kirche sind wir Global Player. Wir können Kontakte herstellen, wir haben Hilfswerke, die weltweit arbeiten, wir können übernational Netzwerke knüpfen und Solidarität üben. Und stets geht es darum zu sagen: Wir haben eine Idee von Menschenwürde, von Gerechtigkeit, von Solidarität. Und diese Idee verfolgen wir. In manchen Teilen der Welt kann das den Menschen sogar den Tod bringen. Aber wir müssen uns als Kirche einsetzen für jene, die keine Lobby haben und am Rande stehen.

Peter Kossen, geboren 1968 im niedersächsischen Wildeshausen ist ein deutscher römisch-katholischer Priester. Er setzt sich gegen moderne Sklaverei und für faire und würdige Arbeitsbedingungen ein.

Das Gespräch führte Christoph Strack.