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"Der Stillstand schenkt uns einen Denkraum"

Thorsten Glotzmann
21. März 2020

Innehalten, nachdenken, aushalten - Svenja Flaßpöhler macht der aktuelle Stillstand Mut. Die Philosophin sieht darin eine Chance, aus der Endlosschleife des Konsums auszubrechen. Und Gesellschaft neu zu denken.

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Philososphin Svenja Flaßpöhler
Bild: Johanna Ruebel

Die Philosophin Svenja Flaßpöhler ist Chefredakteurin des „Philosophie Magazins". Seit 2013 leitet sie gemeinsam mit Wolfram Eilenberger, Gert Scobel und Jürgen Wiebicke das internationale Philosophie-Festival "phil.cologne". Flaßpöhler war vorher leitende Redakteurin für Literatur und Geisteswissenschaft beim Deutschlandfunk Kultur. Sie ist Autorin zahlreicher Essays und Bücher, darunter der Bestseller "Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit".

DW: Frau Flaßpöhler, wir treffen uns hier in Ihrem Schrebergarten. Angesichts der Hamsterkäufe – glauben Sie, wir erleben jetzt eine Renaissance der Selbstversorgung?

Svenja Flasspöhler: Unsere Vorpächter waren ein sehr altes Ehepaar, das diesen Garten seit ihrer Kindheit in den 1920er Jahren nutzte. Sie sind mit ihren eigenen Kindern hierher gezogen, als es in den 1950er Jahren Versorgungsengpässe und eine akute Wohnungsnot in Deutschland gab.

Insofern knüpfen wir hier an eine gewisse Tradition an. Wichtig finde ich auch zu sagen, dass ich hier in einer vergleichsweise privilegierten Situation bin. Ich sitze nicht an einer Supermarktkasse, muss nicht in einem überfüllten Krankenhaus arbeiten, bin nicht permanent der Gefahr der Ansteckung ausgesetzt, sondern ich kann mich ins Grüne zurückziehen und von hier aus arbeiten.

Deutschland Projekt International Garden Dresden
Das Grün in den Schrebergärten beruhigt, nicht nur in diesen aufgeregten Corona-Zeiten Bild: DW/E. Wallis

Wir haben uns nicht die Hand gegeben. Die Kultur des Begrüßens und die Art und Weise, wie wir alle uns begegnen, ändert sich derzeit. Wie können wir das kompensieren?

Ich weiß nicht, ob man das wirklich kompensieren kann. Wir stehen am Anfang einer Erfahrung, die wir wahrscheinlich nie mehr vergessen werden – und es ist schon sehr interessant, dass sich normalerweise Nähe, Solidarität und Fürsorge darin zeigt, dass man Menschen umarmt oder in das eigene Zuhause bittet. All das wird jetzt eigentlich geradezu umgedreht. Diese Verkehrung fällt uns allen nach wie vor schwer – und das ist auch gut so.

In der Geschichte der Menschheit gab es immer wieder Epidemien wie beispielsweise die Pest im Mittelalter oder die Spanische Grippe 1918. Inwiefern ist das Virus jetzt auch ein Stresstest für die Gesellschaft?

Dazu fällt mir als Allererstes das Buch "Überwachen und Strafen" von Michel Foucault ein. Der französische Historiker und Philosoph hat sich sehr eingehend mit der Pest Anfang des 17. Jahrhunderts beschäftigt und meint, dass der Kampf gegen Ansteckung mehr ist als nur eine medizinische Maßnahme.

Coronavirus in Indonesien Sumatra Menschen im Zug
U-Bahn-Fahren in Zeiten sozialer Distanznahme (hier in Indonesien)Bild: AFP/A. Qodir

Vielmehr sei es eigentlich die Urszene der Disziplinargesellschaft, weil wir voneinander separiert, parzelliert, beobachtet und kontrolliert werden. Derzeit erleben wir das Gleiche: Alle Räume der Begegnung wie Theater und öffentliche Plätze werden geschlossen. Man begegnet sich nicht mehr. Man wird in den Privatraum zurückgedrängt.

Inwieweit führt uns diese Krise gerade auch die Schwächen unseres wirtschaftlichen Systems vor Augen?

Erstaunlich deutlich. Mir fällt da das Spannungsverhältnis von Produktion und Reproduktion ein, das von der feministischen Philosophie bereits seit den 1970er Jahren in den Vordergrund gerückt wurde. In der Geschichte war es immer schon so, dass man die Produktion über die Reproduktion gestellt hat. Die Reproduktion, also alles, was meist Frauen unbezahlt machen, spielte sich im Hintergrund ab.

Jetzt merken wir, wie wichtig das Kümmern, Sorgen und Verpflegen ist. Und gleichzeitig realisieren wir eben auch, wie sehr unser ganzes System darauf angelegt ist, dass wir konsumieren und produzieren, um diese Endlosschleife am Laufen halten. Jetzt merken wir, wie fragil dieses kapitalistische System ist und dass es möglicherweise nun angezeigt ist, diese Hierarchie ganz neu zu denken.

Nüchtern betrachtet ist die Klimakrise die viel größere Bedrohung als das Coronavirus. Trotzdem wird die aktuelle Gesundheitskrise in Corona-Zeiten viel ernster genommen. Woran liegt das?

Diese beiden Krisen im Zusammenhang zu sehen, ist recht aufschlussreich: Im Moment wird von uns Solidarität mit den Alten gefordert. Beim Klimawandel ist es genau spiegelverkehrt, da fordern die Jungen mit Blick auf eine zukünftige Katastrophe Solidarität von den Alten.

Svenja Flaßpöhler auf der Bühne mit Martin Walser und Aleida Assmann
Vertritt klare Positionen: Svenja Flaßpöhler (Mitte) mit Martin Walser und Aleida Assmann auf der phil.cologne (2019)Bild: DW/C. Ruta

Und der Unterschied ist eben, dass wir jetzt weltweit einen Aktionismus mit Blick auf einen Feind, eben dieses Virus, haben, der in anderen Krisen einfach nicht da ist. Jetzt sehen wir: Wenn die Welt will, dann kann sie sich wirklich mobilisieren.

Gleichwohl darf man jetzt nicht in naiven Optimismus verfallen, sondern muss auch sehen, dass die Wirtschaft und damit auch Arbeitsplätze bedroht sind. Man will sich gar nicht ausmalen, was passiert, wenn ein überfordertes Gesundheitssystem mit einer Rezession zusammentrifft. Dann wird es auch politisch richtig gefährlich.

Kann man dem Shutdown auch etwas Positives abgewinnen?

Diese Krise und dieser Stillstand ist ein Denkraum, der uns geschenkt wird. Ich würde jetzt nicht so weit gehen und sagen: Wir brauchen den antikapitalistischen Kampf und die große Revolution. Aber wir können natürlich einzelne Elemente innerhalb dieses Systems neu denken, die schon seit längerer Zeit in der Diskussion sind.

Und da gehören Home Office, größere Flexibilität und Familienvereinbarkeit absolut dazu. Es ist sträflich, wie manche Institutionen und Arbeitgeber sich dagegen sperren und immer noch das Gefühl haben, ihre Mitarbeiter überwachen zu müssen. Das ist überhaupt nicht mehr zeitgemäß.

Symbolbild | Homeoffice
Familienzusammenhalt und Homeoffice sind gerade wichtige AlternativenBild: picture-alliance/dpa/Themendienst/M. Brichta

Gut finde ich auch die Erfahrung, dass unser Konsumverhalten sehr empfindlich eingeschränkt ist, und wir auf uns zurückgeworfen sind. Jeder weiß intuitiv, dass Konsum kurzzeitig einen Kick gibt, aber dass er langfristig nicht das ist, was man mit Glück verbindet.

Den Glücksbegriff könnte man sich philosophisch gerade in dieser Krise noch mal genauer ansehen. Beim antiken Glücksbegriff spielt die Moral eine wesentliche Rolle: Nur ein moralisches Leben ist auch ein gutes Leben.

Ich möchte einmal den berühmten Spruch des französischen Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal in den Raum werfen: Das ganze Unglück der Menschen rührt nur daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können. Wie können wir mit der Langeweile der Isolation umgehen?

Philosophisch gesehen war das nicht nur Blaise Pascal, sondern auch Martin Heidegger, der da sehr drauf gepocht hat, dass der Mensch dann in seine Eigentlichkeit findet. An die Stelle des Besorgens muss dann die Sorge um das eigene Dasein treten.

Und diese Sorge spüren wir in Momenten existentieller Ausgesetztheit an ein Nichts, so wie er das formuliert. Uns wird also in diesen ganz stillen Momenten, wenn wir eben allein im Zimmer sitzen, unsere Vergänglichkeit bewusst: Wir sind vom Tod umgeben, der auf uns wartet.

Bei Hannah Arendt (deutsch-amerikanische Philosophin/1906-1975, Anmerk.d.Red.) die immer die Sozialität, die Vita Activa (das aktive Leben), mitgedacht hat, sieht das ganz anders aus. Da geht es um politisch gemeinsames Handeln. Ich muss sagen, dass mir das sympathischer ist.

Also fördert die Krise möglicherweise auch die Rückbesinnung darauf, worauf es im Leben wirklich ankommt?

Ich glaube, das liegt jetzt einfach an uns, wie wir in dieser Krise agieren, wie sehr wir diese positive Energie mobilisieren können. Ich bin erst einmal grundsätzlich ein sehr optimistischer Mensch und kann daher vor allem Mut machen, diese Chance und ihre positiven Effekte nutzen.

Das Gespräch führte Thorsten Glotzmann.