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Politik

Der hohe Preis der Auswanderung

7. Juni 2018

Tausende polnische Krankenschwestern, Pflegekräfte oder Handwerker arbeiten im Ausland. Das hat Konsequenzen: Viele Kinder wachsen ohne Mutter und Vater auf, weil sie monatelang und länger abwesend sind.

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Pflege
Ohne ausländische Arbeitskräfte würden viele ältere Menschen in Deutschland ohne Hilfe da stehenBild: Imago/Westend61

Das polnische Internet ist voller Geschichten von Kindern, die sich von ihren Eltern verlassen fühlen, die im Ausland arbeiten. Es gibt Internetforen, in denen sie nach Unterstützung suchen und von ihrem Schicksal erzählen. "Hallo, Vati. Ich bin schon 16 Jahre alt. Es ist ein ganzes Jahr her, seit du verreist bist. Jeden Tag rieche ich an deinem Hemd, das du hinterlassen hast, weil es in den Koffer nicht reinpasste", zitiert Maria aus ihrem letzten Brief an den Vater, der in England jobbt. "Meine Mutter ging ins Ausland, als ich 13 war. Sie sollte eigentlich nur für ein paar Monate nach Deutschland, weil sie hier in Polen sehr schlecht verdient hat. Sie konnte sich keine Kleider leisten. Sie ist bis heute dort. Das macht mich traurig", klagt der 18-jährige Tomek. 

Als Małgorzata Greber sich für die Ausreise entschloss, wollte sie ihrer Tochter Martyna ein solches Trauma ersparen. Sie hatte genug Mut, die damals 8-jährige nach England mitzunehmen. In Polen hatte sie als Krankenschwester 600 Euro im Monat verdient, in England bekam sie fast das Vierfache. Doch schnell fühlte sie sich einsam, vermisste ihre Heimat, ihre Familie und Freunde. Auch finanziell war es nicht so glänzend, wie sie es sich erhofft hatte. "Die Arbeitsagenturen locken mit viel Geld, aber jeder, der ausreisen will, soll sich genau ausrechnen, wie viel der Lebensunterhalt im jeweiligen Land wirklich kosten wird. Nur diejenigen, die als Paare ausreisen, schaffen es gut", erzählt sie im Gespräch mit der DW.

Kein würdiges Leben in Polen

Nach zweieinhalb Jahren kam Greber mit ihrer Tochter nach Polen zurück, um wieder als Krankenschwester zu arbeiten. Das ging aber nur ein halbes Jahr gut. "Das Kind war für mich das Wichtigste, dabei hatte ich ständig 12- und 24-Stunden-Schichten, das war mir zu anstrengend. Und mit dem Lohn war es wieder schwierig auszukommen". Derzeit hat Małgorzata einen guten Job in einem Drei-Jahres-Projekt an der Medizinischen Universität Lodz, danach möchte sie wieder in ihren Beruf einsteigen. Sie fragt sich aber, ob sie mit dem Gehalt einer Krankenschwester in Polen jemals ein würdiges Leben führen kann.

Malgorzata Greber mit ihrer Tochter Martyna
Malgorzata Greber mit ihrer Tochter Martyna Bild: privat

Małgorzata zählt zu den wenigen Ausnahmen. Die meisten Krankenschwestern, die im Ausland in ihrem erlernten Beruf oder als Pflegekräfte arbeiten, kommen nicht mehr nach Polen zurück - und wenn, dann gehen sie nicht mehr zum staatlichen Gesundheitswesen.

Polnisches Gesundheitswesen am Boden

Teresa hatte 15 Jahre lang in Krankenhäusern in Westpolen gearbeitet. Als ihre Kinder 14 und 15 Jahre alt waren, begann sie regelmäßig zur Arbeit nach Deutschland zu pendeln. Ihre Ehe war inzwischen zerbrochen, weil der Mann, der in England arbeitete, eine neue Partnerin gefunden hatte. Die Kinder waren bei der Oma, die es mit den Teenagern schwer hatte. Teresa beschloss zurückzugehen.

In ihrem alten Krankenhaus erlebte sie einen Schock. Viele ihrer Kolleginnen waren ausgewandert, nach England, Deutschland und Norwegen. "Einige Stationen waren leer, andere so überfüllt, dass die Patienten in den Gängen lagen. Wir hatten so viel zu tun, dass ich mich ständig entscheiden musste, ob ich die Patienten füttern oder zur Toilette begleiten soll. Und wen von ihnen zuerst? Das war erniedrigend, für die Patienten und für mich", sagt Teresa.

Jetzt betreut Teresa einen älteren Mann in der Nähe von Kiel und bekommt 1460 Euro auf die Hand. Nach zwei Monaten Arbeit braucht sie immer zwei Monate in Polen, um Kräfte zu sammeln. "In meinem Vertrag steht über die Arbeitszeit: 40 Stunden pro Woche. Praktisch muss ich aber rund um die Uhr einsatzbereit sein. Nach zwei Monaten fühle ich mich völlig erschöpft". Doch sie müsse diese Konditionen akzeptieren, sonst würde sie den Job nicht bekommen. Es gäbe genug Frauen aus anderen Ländern wie Rumänien oder der Ukraine, die alle Bedingungen hinnehmen würden, sagt Teresa.

Soziale Kosten der Auswanderung

Seit dem EU-Beitritt Polens sind mindestens 20.000 in Polen ausgebildete Krankenschwestern ins Ausland gegangen, die meisten, um  als Pflegekräfte zu arbeiten. Heute gibt es im Lande 280.000 Krankenschwestern, von denen nur 42.000 jünger als 40 sind. Das Durchschnittsalter liegt bei 51 Jahren. Im Jahr 2015 gab es 5,2 Krankenschwestern und 2,3 Ärzte pro 1000 Einwohner (in Deutschland: 13 und 4,1). Das Gesundheitswesen ist chronisch unterfinanziert.

Kein Wunder, dass das Personal immer häufiger an Ausreise denkt. Die sozialen Kosten sind aber sehr hoch. Drei Jahre nach dem EU-Beitritt Polens, im Jahr 2007, mussten etwa 1300 Kinder, derer Eltern im Ausland arbeiteten, in Kinderheimen oder Ersatzfamilien untergebracht werden. Derzeit spricht man von 100.000 polnischen "Eurowaisen" und immer häufiger auch von den "Eurosenioren", deren erwachsene Kinder im Ausland arbeiten.

Polnischer Bauarbeiter
Viele Männer aus Polen arbeiten in Deutschland, Großbritannien oder in SkandinavienBild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Geld kontra Privatleben

Auch Teresa mit ihrer langjährigen Erfahrung als Pendlerin zwischen Polen und Deutschland fühlt, dass durch diese Lebensweise in ihrem Privatleben viel schiefgegangen ist. Die wichtige Zeit, als die Kinder Teenager waren und sie fast nie zu Hause war, ist nicht mehr nachzuholen. Auch vom sozialen Leben, das sie einst hatte, gibt es keine Spur. Ihre Freunde trifft sie immer seltener, viele Kontakte werden abgebrochen. "Das ist kein gutes Leben. Das Leben läuft an mir vorbei", sagt sie.

Doch die 55-jährige ist auf das ständige Pendeln immer noch angewiesen, weil sie jetzt auch ihre Eltern unterstützten muss und das Studium der Kinder finanzieren will. Sie ist damit nicht glücklich, doch in Polen sieht sie für sich keine Alternative.

Porträt einer Frau mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau