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Politik

Polens Abtreibungs-Debatte ist nicht zu Ende

29. Januar 2021

In Polen mehrt sich die Kritik an der Verschärfung des Abtreibungsrechts. Der Ex-Vorsitzende des Verfassungsgerichts hält das Urteil, nach dem auch unheilbar kranke Föten zur Welt kommen müssen, für "ungültig".

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Demonstranten halten eine polnische Fahne ein Transparent mit der Aufschrift "Verpiss dich!" während einer Demonstration gegen das Urteil zur Verschärfung des Abtreibungsrechts in Warschau, Polen, am 28. Januar 2021.
Warschau, 28.01.2021: "Verpisst euch" steht auf dem Plakat. Links im Bild: Das Emblem des "Allpolnischen Frauenstreiks"Bild: Kacper Pempel/REUTERS

Drei Monate lang hat es gedauert, bis das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 22. Oktober 2020 endgültig im Amtsblatt der Republik Polen erschien. Nun wurde auch die Urteilsbegründung nachgereicht. Damit gilt ein neues Abtreibungsrecht.

Bisher war der Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung, bei Gefahr für Leben oder Gesundheit der Mutter und aufgrund einer schweren Schädigung des Fötus erlaubt. Diese letzte Voraussetzung fällt nun weg. Das heißt: Auch Kinder, die keine Chance auf Überleben haben, müssen in Polen ab jetzt zur Welt kommen.

In den Großstädten des EU-Landes hat das Urteil Tausende auf die Straßen getrieben. In Warschau zogen Demonstranten mit Fackeln und Regenbogenfahnen durch die Stadt. Auf ihren Transparenten standen Parolen wie "Das ist Krieg", "Ich will aus Liebe, nicht aus Zwang Kinder haben" oder "Kämpft gegen Viren, nicht gegen Frauen". Mit sehr scharfen und teilweise vulgären Worten forderten die Demonstranten Polens Regierung zum Rücktritt auf.

Proteste gegen das Urteil zur Einschränkung des Abtreibungsrechts in Warschau, Polen, am 28. Januar 2021: Demonstrierende tragen eine Banner mit der Aufschrift "Strajk Kobiet" (Frauenstreik), dahinter zeigt ein Demonstrant ein Plakat mit der Aufschrift "Ich bin kein Brutkasten"
Demonstrierende mit dem Logo der Initiative "Allpolnischer Frauenstreik" am Donnerstag in WarschauBild: Kacper Pempel/REUTERS

"Bisher sprachen wir von einer Hölle für Frauen - aber ab jetzt werden wir von einer Hölle für die Regierung sprechen. Wir werden Euch die Hölle heiß machen!", rief die Schriftstellerin Klementyna Suchanow von der der Initiative "Allpolnischer Frauenstreik", die zu den Protesten aufgerufen hatte. Die Demonstranten zogen vom Verfassungsgericht zum Sitz der Regierungspartei "Prawo i Sprawiedliwość", "Recht und Gerechtigkeit", kurz PiS, die sich seit ihrem Wahlsieg 2015 für die Verschärfung des Abtreibungsrechts stark gemacht hat.

Initiative der PiS

Das Verfassungsgerichtsurteil war eine Reaktion auf eine Anfrage von 119 Parlamentsabgeordneten der PiS und anderer rechts-konservativen Parteien, die die seit 1993 geltende Regelung für Schwangerschaftsabbrüche für verfassungswidrig halten. Im Parlament war es bisher nie gelungen, das entsprechende Gesetz zu verschärfen, weshalb die Abtreibungsgegner dieses Mal den parlamentarischen Weg umgingen.

Demonstration auf dem Hauptplatz von Krakau gegen die Einschränkungen des Abtreibungsrechts in Polen am 27. Januar 2021. Der Protest wurde von der Initiative "Allpolnischer Frauenstreik" organisiert, nachdem Polens höchstes Gericht heute offiziell ein Urteil mit Begründung veröffentlichte, das aus dem folgt, dass Abtreibungen in Polen ab jetzt auch verboten sind, wenn das Leben des Kindes als gefährdet angesehen wird
Protest gegen die Verschärfung der Abtreibungsrechts vor dem Sitz des Bischofs in Krakau am 27.01.2021Bild: Beata Zawrzel/NurPhoto/picture alliance

Das mehrheitlich von PiS-treuen Richtern besetzte Verfassungsgericht urteilte, die Abtreibung schwer behinderter Föten verstoße gegen den in der Verfassung verankerten Schutz des Lebens. Das Recht darauf beginne "mit der Empfängnis", das sei "ein Fundament der Zivilisation", heißt es unter anderem in der 154 Seiten langen Begründung.

Kirche und Kaczyński zufrieden

Die Verschärfung ist sowohl im Sinne der katholischen Kirche - in Krakau wurde vor dem Sitz des Bischofs demonstriert - als auch des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński, der zu den größten Feinden einer liberalen Abtreibungsgesetzgebung gehört. Selbst kinderlos und Junggeselle, fordert der 71-Jährige schon lange, dass auch schwer behinderte Kinder zur Welt kommen, damit die "getauft und beerdigt" werden" können.

Der Vorsitzende der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jarosław Kaczyński, nimmt an der ersten Sitzung des neuen polnischen Parlaments am 12. November 2019 in Warschau teil.
Der Vorsitzende der Regierungspartei PiS, Jarosław Kaczyński, Mitte November im Parlament in WarschauBild: W. Radwanski/AFP/Getty Images

Unheilbar kranke Föten sind Grund für die überwiegende Mehrheit der legalen Abtreibungen in Polen. Von den 1100 Schwangerschaftsabbrüche, die 2019 offiziell registriert wurden, wurden 1074 so begründet. Laut dem Warschauer Oberbürgermeister und Ex-Präsidentschaftskandidaten der größten Oppositionspartei "Bürgerplattform" (PO), Rafał Trzaskowski, warten in den Krankenhäusern der polnischen Hauptstadt zurzeit mehrere Frauen auf eine Abtreibung, weil sie unheilbar kranken Föten in sich tragen.

Drei Jahren Gefängnis für Ärzte

Dass diese Frauen "jetzt, unvorbereitet, von einem Tag auf den anderen," das Recht auf einen Abbruch ihrer Schwangerschaften verlieren, ist für den liberalen Politiker "ein Spiel mit menschlichen Leben und menschlichen Emotionen". Zusammen mit Juristen will Trzaskowski die rechtliche Lage der betroffenen Frauen "einer genauen Analyse unterziehen".

Rafał Trzaskowski, Bürgermeister von Warschau und Präsidentschaftskandidat der Mitte-Rechts-Oppositionspartei Bürgerplattform (PO) hält eine Rede vor Einheimischen und Anhängern während einer Wahlkampfkundgebung am letzten Tag des offiziellen Wahlkampfes für die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen auf dem Hauptplatz in Swidnica, Polen, am 10. Juli 2020. Trzaskowski versucht, den derzeitigen Präsidenten Andrzej Duda, der von der konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unterstützt wird, bei der Stichwahl am 12. Juli abzusetzen.
Rafał Trzaskowski, OB von Warschau und damals Präsidentschaftskandidat der PO, im Wahlkampf im Juli 2020Bild: Getty Images/O. Marques

In Polen drohen einem Arzt, der eine illegale Abtreibung durchführt, bis zu drei Jahre Gefängnis. Barbara Nowacka von der Oppositionspartei "Initiative Polen" warnt, dass ab jetzt Ärzte dafür bestraft werden, "Frauen und ihre Familien vor einem Trauma zu retten". Adam Bodnar, Polens Ombudsmann für Menschenrechte, spricht von einem "Drama für die Frauen". "Der Staat will ihre Rechte weiter einschränken und sie so Qualen aussetzen. Dagegen tritt die Zivilgesellschaft an", schrieb er auf Twitter.

"Wir stecken in einer rechtlichen Anomie"

Viele Kritiker halten das Urteil des Verfassungsgerichts für illegitim, weil Polens höchste Richter seit der Justizreform der PiS-Regierung von der Regierung kontrolliert würden. Auch die Europäische Kommission sieht in der Übernahme des polnischen Gerichtswesens durch die regierende Partei einen Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit.

Andrzej Rzepliński, der Vorsitzende des polnischen Verfassungsgerichts, betritt gefolgt von anderen Richter den Gerichtssaal in Warschau, um an einer Sitzung am Donnerstag den 11. August 2016, teilzunehmen. Das Gericht hat entschieden, dass Teile eines neuen Gesetzes, das seinen eigenen Betrieb regelt, verfassungswidrig sind
Andrzej Rzepliński, damals Vorsitzender des polnischen Verfassungsgerichts (2016)Bild: picture-alliance/AP Photo/A. Keplicz

Andrzej Rzepliński, Ex-Vorsitzender des Verfassungsgerichts, hält das Urteil gar für ungültig. Einmal aufgrund der rechtswidrigen Besetzung des Richtergremiums. Zudem sei die Anfrage der 119 Abgeordneten, die jetzt zum Verfassungsgerichtsurteil geführt hat, inhaltlich identisch mit einer Abgeordneten-Anfrage aus dem Jahr 2017, die von einer PiS-Politikerin mit unterzeichnet wurde, die heute Verfassungsrichterin ist und auch das aktuelle Urteil mit unterzeichnet hat. "Das ist ein Verstoß gegen die Unparteilichkeit", sagte Rzepliński dem Internetmagazin Onet. "Wir stecken in einer rechtlichen Anomalie. Es herrscht Chaos".

Dudas Kompromissvorschlag

Der PO-Vorsitzende Borys Budka spricht von "einem Pseudo-Urteil eines Pseudo-Gerichts". Die Entscheidung sei in einem Moment gefällt worden, an dem sich Polen im Kampf gegen Corona befinde. Die PiS wolle von dem von ihr verantworteten Pandemie-Fiasko ablenken. Keine zukünftige Regierung werde das aktuelle Urteil respektieren.

Der polnische Präsident und Präsidentschaftskandidat der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) Andrzej Duda spricht zu den Medien nach der Bekanntgabe der ersten Ergebnisse in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen, im Präsidentenpalast in Warschau, Polen, 12. Juli 2020.
Der polnische Präsident Andrzej Duda nach seinem Sieg bei den Wahlen am 12.07.2020Bild: Reuters/A. Szmigiel

Sicher ist: Die Abtreibungsdebatte, die in Polen seit über 30 Jahren geführt wird, hat das Verfassungsgericht nicht beendet. Im Parlament wartet ein Gesetzentwurf, den Präsident Andrzej Duda während der Massenproteste im Herbst 2020 eingebracht hatte. Demnach soll Abtreibung bei gewissen Fehlbildungen legal bleiben. Frauenrechtlerinnen haben bereits angekündigt, dass sie nicht über den Vorschlag diskutieren wollen.

Mehr illegale Abtreibungen?

Neben den bisher rund 1000 legalen Schwangerschaftsabbrüchen jährlich werden in Polen auch viele illegale Abtreibungen vorgenommen. Frauenorganisationen sprechen von zwischen 100.000 und 200.000 Abbrüchen pro Jahr. Sie befürchten, dass die Zahl mit der neuen Regelung steigen wird.

Bei Umfragen hatte sich eine Mehrheit der Polinnen und Polen gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts ausgesprochen. Die Demoskopen von IPSOS meldeten im November 2020, ganze acht Prozent der Befragten befürworte ein totales Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Bei den PiS-Wählern waren es immerhin 19 Prozent - aber 36 Prozent akzeptierten Abtreibungen im Falle einer Fehlbildung des Fötus.

Porträt einer Frau mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau