1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Veto gegen EU: Haben Polen und Ungarn recht?

1. Dezember 2020

Polen und Ungarn provozieren mit ihrer Blockadehaltung eine schwere Krise in der Europäischen Union. Stimmen die Argumente der beiden Mitgliedsstaaten?

https://p.dw.com/p/3m52w
EU ringt um Finanzpaket I M. Morawiecki -und V. Orban
Die Regierungschefs Polens und Ungarns, Mateusz Morawiecki und Viktor Orbán, in Brüssel am 24.09.2020Bild: Francois Lenoir/Pool/File Photo/Reuters

Mit ihrem Veto gegen den kommenden EU-Haushalt und den Corona-Wiederaufbaufonds haben Polen und Ungarn die Europäische Union in eine der schwersten Krisen der vergangenen Jahre gestürzt. Der Frust über die beiden "Blockierer" wächst in vielen anderen Mitgliedstaaten immer weiter an, denn die EU streitet mit Polen und Ungarn wegen Rechtsstaatsdefiziten schon seit Jahren.

Umgekehrt werfen die beiden Länder der EU vor, sie politisch bestrafen zu wollen, weil sie in bestimmten Punkten, etwa in der Frage der Migration, nicht die liberale Mehrheitsmeinung vertreten würden. Während ihres Treffens am Montag (30.11.2020) bekräftigten Polens und Ungarns Regierungschefs, Mateusz Morawiecki und Viktor Orbán, noch einmal ihr Veto und wollen nun einen Kompromissvorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft abwarten.

Die DW analysiert die Positionen der beiden Länder.

Warum genau haben Polen und Ungarn ihr Veto gegen den EU-Haushalt und den Corona-Wiederaufbaufonds eingelegt?

Grund für das Veto Polens und Ungarns ist der so genannte Rechtsstaatsmechanismus. Mit ihm will die EU ein Instrument schaffen, Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien mit Beihilfekürzungen schneller und effektiver zu sanktionieren als bisher möglich. Dabei geht es allerdings nur um Rechtsstaatsverstöße, die einen Missbrauch von EU-Fördermitteln beinhalten, etwa bei regelwidrigen öffentlichen Ausschreibungen. Polen und Ungarn hatten diesem Mechanismus im Juli zunächst grundsätzlich zugestimmt. Nun behaupten sie, dass er anders gestaltet worden sei, als ursprünglich vereinbart.

EU-Sondergipfel zur Bewältigung der Corona-Wirtschaftskrise
Brüssel, 19.07.2020: Viktor Orbán gibt eine Pressekonferenz am Rande des EU-GipfelsBild: picture-alliance/dpa/J. Neudecker

Das ist falsch. Der aktuelle Entwurf wurde nur in Nuancen geändert. Die wichtigste Änderung, die zwischenzeitlich hinzukam, besteht darin, dass der Rechtsstaatsmechanismus bereits in Gang gesetzt werden kann, wenn das ernsthafte Risiko eines Missbrauchs von EU-Geldern "in hinreichend direkter Weise" feststellbar ist. Laut einer früheren Variante musste der Missbrauch bereits erfolgt sein. Zugleich wurde aber eine beträchtliche Hürde in den Mechanismus eingebaut: Um Sanktionen zu erwirken, bedarf es der Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit von fünfzehn Mitgliedstaaten mit zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung.

Wie begründen Polen und Ungarn ihr Veto? Und ist die Begründung gerechtfertigt?

Offiziell sprechen Polen und Ungarn davon, dass der Rechtsstaatsmechanismus den EU-Grundlagenvertrag verletzt und damit Rechtsstaatsprinzipien untergräbt, statt sie zu stärken. Gegen welche Bestimmungen des Lissabonner Vertrags der Mechanismus verstößt, präzisieren die Regierungen der beiden Länder nicht. Sie argumentieren außerdem, dass die Formulierungen im Rechtsstaatsmechanismus vage und unklar seien, deshalb sei er letztlich ein politisches Instrument gegen missliebige Mitgliedstaaten.

Das ist falsch. Der 14seitige Entwurf des Rechtsstaatsmechanismus enthält klare Kriterien und Definitionen, wann und unter welchen Umständen er anzuwenden ist. Dass die EU den Rechtsstaatsmechanismus als politische Waffe einsetzt, ist unwahrscheinlich - üblicherweise agierte sie im Streit um den Rechtsstaat in den vergangenen Jahren eher defensiv und zurückhaltend.

Ungarn 2012 | Demonstration polnischer Nationalisten in Budapest
Die EU als neue Sowjetunion: Plakat polnischer Rechtsextremisten bei einer Demonstration in Budapest 2012Bild: Imago/EST&OST

In politischen Erklärungen nennt der polnische Premier Mateusz Morawiecki den Begriff Rechtsstaatlichkeit einen "Propagandaknüppel", der ihn an "sozialistische Zeiten" erinnere. Sein ungarischer Amtskollege Viktor Orbán behauptet, der Mechanismus bedeute eine "neue Sowjetunion". Er sei als Strafmaßnahme für Mitgliedsländer erfunden worden, die sich der Ansiedlung von Migranten in der EU widersetzten. Solche Erklärungen dürften in erster Linie der innenpolitischen Mobilisierung dienen. Vor allem hat der Mechanismus nichts mit der Migrationspolitik der EU zu tun.

Kritiker der Regierungen Polens und Ungarns behaupten, die beiden Länder seien gegen den Rechtsstaatsmechanismus, weil das ihre korrupte und intransparente Vergabe von EU-Fördermitteln bedrohe. Stimmt das?

Eine missbräuchliche Vergabe europäischer Fördermittel ist in erster Linie in Ungarn ein großes Problem - das Land ist dabei Spitzenreiter in der EU: Die europäische Antibetrugsbehörde OLAF identifizierte von 2015 bis 2019 insgesamt 43 Fälle von zweckentfremdeten EU-Geldern, ihre Gesamtsumme betrug 3,93 Prozent aller in diesem Zeitraum an Ungarn gezahlten EU-Beihilfen.

Zum Vergleich: In der gesamten EU untersuchte OLAF im selben Zeitraum 235 Fälle, deren Summe 0,34 Prozent aller EU-Beihilfen betrug. Ungarn liegt also bei der Zweckentfremdung um den Faktor zehn höher als der EU-Durchschnitt - wobei die Zahl unidentifizierter Fälle möglicherweise viel größer ist.

In Ungarn werden EU-Fördermittel sehr häufig an Familienmitglieder Orbáns oder Geschäftsleute aus seinem Umfeld vergeben, Ausschreibungen für EU-geförderte Projekte sind oftmals auf sie zugeschnitten. Es kommt zudem häufig vor, dass ungarische Strafverfolgungsbehörden Empfehlungen von OLAF nicht umsetzen, also keine Betrugsermittlungen durchführen.

Polen hat längst kein so umfassendes korruptionsbehaftetes System in der Vergabe von EU-Beihilfen. OLAF identifizierte 2015 bis 2019 22 Fälle von zweckentfremdeten EU-Geldern, deren Summe 0,12 Prozent aller gezahlten EU-Beihilfen betrug.

Protest in Polen -"Gestohlene Gerechtigkeit"
Protest gegen die zunehmende politische Kontrolle der Justiz in Polen, hier im Januar 2018 in KrakauBild: picture-alliance/ZUMA Wire/SOPA/O. Marques

Entgegen dem Image des Vizepremiers und Vorsitzenden der regierenden Partei "Recht und Gerechtigkeit" (Prawo i Sprawiedliwość, kurz PiS), Jarosław Kaczyński, als bescheidenem und unbestechlichen Politiker gibt es dennoch Korruptionsfälle im Umfeld der PiS. So wird etwa bei der staatlichen Agentur ARMIR, die für die Auszahlung der sehr wichtigen Agrarsubventionen verantwortlich ist, immer wieder Korruption aufgedeckt. Mit der zunehmenden politischen Kontrolle der Justiz in Polen steigt auch die Gefahr, dass diese Fälle weniger konsequent untersucht werden.

Was würde ein Veto - und damit auch der Verzicht auf die Corona-Wiederaufbauhilfen der EU - für Polen und Ungarn finanziell bedeuten?

Polen und Ungarn haben seit ihrem EU-Beitritt 2004 in gewaltigem Maße von europäischen Fördermitteln profitiert. In beiden Ländern zählen sie zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren. EU-Zahlungen machten 2018 in Polen 3,43 Prozent des Bruttosozialprodukts aus, in Ungarn waren es 4,97 Prozent.

In Polen schätzt das Wirtschaftsministerium, dass ein Viertel des Wachstums der letzten Jahre auf die EU-Hilfen zurückzuführen ist. Nach dem EU-Beitritt sind zudem massenhaft Auslandsinvestitionen ins Land gekommen, deren Gesamtvolumen derzeit über 200 Milliarden Euro beträgt. Dank EU-Hilfen sind außerdem 600.000 neue Arbeitsplätze entstanden.

Polen Warschau | Coronavirus
Polen steht vor einem Corona-bedingten Rückgang des Wirtschaftswachstums: Lockdown in WarschauBild: Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

Polen und Ungarn stehen an der Spitze der Nettoempfänger von EU-Geldern: Im Jahr 2019 erhielt Polen 12,1 Milliarden Euro von der EU, Ungarn 5,1 Milliarden Euro. Auch in der Haushaltsperiode 2021 bis 2027 sollen Polen und Ungarn im Top der Nettoempfänger bleiben.

Corona-bedingt wird es in beiden Ländern in diesem Jahr einen starken Wachstumsrückgang geben, Schätzungen gehen von vier bis acht Prozent aus. Das Corona-Wiederaufbauprogramm der EU würde einen großen Teil dieser Verluste wieder ausgleichen, zurückzahlen müssten sie die Empfängerländer nur mittelbar.

Ungarns Premier Orbán hat angekündigt, dass sein Land auf dem internationalen Finanzmarkt Kredite aufnehmen würde, wenn es nicht am Corona-Wiederaufbauprogramm teilnimmt. Das würde Ungarns Wirtschaft auf Dauer viel stärker belasten als eine Teilnahme am Corona-Wiederaufbauprogramm der EU.