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Paradoxes Wahlrecht

30. Dezember 2009

Das deutsche Wahlrecht ist nicht so mustergültig demokratisch, wie die meisten glauben. Auf Anordnung des Bundesverfassungsgericht muss es der Bundestag nun ändern. Doch mehr als ein Reförmchen ist kaum zu erwarten.

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Stimmabgabe bei der Bundestagswahl (Foto: DPA)
Stimmabgabe bei der BundestagswahlBild: dpa

Welch vermintes Gelände das Wahlrecht ist, haben die deutschen Politiker noch gut im kollektiven Gedächtnis. Dabei liegt die letzte Explosion schon über vier Jahrzehnte zurück. In der Großen Koalition von 1965 hatten CDU/CSU und SPD eine Reform des Bundestags-Wahlrechts vereinbart, die für die kleine FDP existenzbedrohend war. Die FDP bot sich daraufhin den Sozialdemokraten als Koalitionspartner an – um den Preis eines Verzichts auf die Wahlrechtsreform. So wurde 1969 Willy Brandt Bundeskanzler. Seitdem ziehen es deutsche Politiker vor, auf dem Feld des Wahlrechts möglichst stillzuhalten.

2011 muss die Reform stehen

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verlangt eine Reform des Wahlrechts (Foto: dpa)
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verlangt eine Reform des WahlrechtsBild: AP

Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen Bewegung angeordnet. In einem Spruch von 2008 haben die obersten Richter das deutsche Wahlrecht als in Teilen verfassungswidrig beurteilt und eine Reform bis 2011 verlangt. Bis jetzt ist nichts geschehen, aber allmählich müssen die Politiker tätig werden. Zur Einstimmung haben einige mit der Wahlrechtsreform betraute Abgeordnete vor dem Jahreswechsel schon einmal Experten angehört – allerdings nur, um deren Vorschläge am Ende alle vom Tisch zu wischen und eine "minimal-invasive Operation", so Dieter Wiefelspütz (SPD), anzukündigen.

Das Dresdner Paradox

Anlass für den Karlsruher Richterspruch war das so genannte Dresdner Paradox. Bei einer Nachwahl zur Bundestagswahl 2005 in Dresden musste die CDU hoffen, nicht zu viele Zweitstimmen zu bekommen, weil sie sonst ein Mandat verloren hätte.

Der Grund liegt in der deutschen Mischung aus Direkt- und Verhältniswahlrecht. Die Bundesrepublik ist in Wahlkreise aufgeteilt, in denen jeweils der Bewerber ein Mandat bekommt, dem die meisten Wähler ihre Erststimme geben. Die Hälfte der Bundestags-Sitze sind solche Direktmandate. Ihre Zweitstimme vergeben die Wähler an die Kandidatenliste einer Partei. Damit bestimmen sie nicht nur über die andere Hälfte der zu vergebenden Mandate, sondern insgesamt über das Stärkeverhältnis der Parteien im Parlament. Dieses Verhältniswahl-Element dominiert, weil auf die Sitze, die einer Partei zustehen, die gewonnenen Direktmandate angerechnet werden. Allerdings kommen direkt gewählte Abgeordnete auf jeden Fall ins Parlament, selbst wenn sie am Ende mehr sind, als ihrer Partei nach dem Zweitstimmen-Verhältnis an Sitzen zusteht. Die Partei hat dann "Überhangmandate".

Nachwahl in Dresden am 2. Oktober 2005, zwei Wochen nach der Bundestagswahl. Sie brachte die Reform ins Rollen (Foto: AP)
Nachwahl in Dresden am 2. Oktober 2005, zwei Wochen nach der Bundestagswahl. Sie brachte die Reform ins RollenBild: AP

In Sachsen hatte die CDU bei der regulären Bundestagswahl 2005 drei dieser Überhangmandate gewonnen. Bei der Nachwahl in Dresden, die wegen des Todes einer Kandidatin notwendig geworden war, standen die CDU-Anhänger nun vor einer paradoxen Situation: Würde ihre Partei so viele Zweitstimmen bekommen wie bei der letzten Wahl, stünde ihr theoretisch in Sachsen ein Sitz mehr zu. Der käme aber nicht zum Tragen, weil die CDU ohnehin Überhangmandate hatte. Das theoretische zusätzliche Mandat in Sachsen würde allerdings ganz praktisch einen CDU-Kandidaten in Nordrhein-Westfalen, der gerade noch in den Bundestag gerutscht war, sein Mandat kosten. Denn die Zweitstimmen werden bundesweit verrechnet, und die zusätzlichen Dresdner Stimmen hätten auf Bundesebene nicht für ein weiteres Mandat ausgereicht. Dies wissend, wählten viele CDU-Anhänger mit der Erststimme erfolgreich ihren Direktkandidaten, mit der Zweitstimme aber FDP. Weniger Zweitstimmen führten so für die CDU zu mehr Sitzen im Bundestag.

"Negatives Stimmengewicht" ist nicht so selten

Fachleute sprechen hier vom "negativen Stimmengewicht". Meist fällt es nicht so auf wie bei der Nachwahl in Dresden, wo es sich die CDU gezielt zunutze machen konnte. Aber bei der erwähnten Expertenhörung zur Wahlrechtsreform berichtete ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestags, dass bei der letzten Bundestagswahl im Herbst gleich in neun der 16 Bundesländer negative Stimmengewichte aufgetreten seien.

Das Bundesverfassungsgericht kam 2006 zu der späten, aber einleuchtenden Erkenntnis, dass ein Wahlrecht verfassungswidrig ist, in dem mehr Stimmen zu weniger Mandaten und weniger Stimmen zu mehr Mandaten für eine Partei führen können. Bei der Anhörung, die von der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen organisiert und in einem Sitzungssaal des Bundestages durchgeführt wurde, stellten nun Staatsrechtler und Politologen Modelle vor, wie das Wahlrecht im Sinne des Karlsruher Richterspruchs geändert werden könnte.

Experten schlagen vor, Abgeordnete lehnen ab

Der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee zeigte mehrere Lösungsvorschläge auf, darunter das Modell, das die Große Koalition in den Sechziger Jahren schon einmal angestrebt hatte: Die Hälfte des Parlaments wird wie bisher mit Direktmandaten besetzt, aber diese werden nicht angerechnet, wenn der Rest der Sitze nach dem Verhältniswahlrecht vergeben wird. Der Friedrichshafener Politologe Joachim Behnke schlug vor, die Größe der Wahlkreise zu verdoppeln und pro Wahlkreis die zwei Kandidaten mit den meisten Stimmen in den Bundestag zu schicken. So seien Überhangmandate und damit negative Stimmengewichte weitgehend auszuschließen.

Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion (Foto: dpa)
Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher der SPD-BundestagsfraktionBild: picture-alliance/dpa

Der lang gediente SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz wischte allerdings alle Vorschläge vom Tisch und warf in einem erregten Debattenbeitrag "den Professoren" Realitätsferne vor. Wiefelspütz wie auch Abgeordnete der anderen Parteien machten klar, dass sie am bestehenden Wahlrecht so gut wie nichts ändern wollten. Die Karlsruher Richter hätten nicht die Überhangmandate als solche kritisiert, sondern nur die negativen Stimmengewichte. Man müsse daher, so Wiefelspütz, lediglich die Verrechnung der Zweitstimmen zwischen den Bundesländern so ändern, dass dieser Effekt vermieden wird. Wie das gehen soll, ließ er allerdings offen. Die Äußerungen der Politiker bei dieser Veranstaltung lassen eine derart "minimal-invasive" Reform erwarten, dass sie den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht genügen und erneut dort landen dürfte.

Dabei ließe sich das Problem einfach aus der Welt schaffen, indem man nur noch ein Drittel der Abgeordneten direkt wählt. Dann könnte lediglich eine Partei, die deutlich unter 40 Prozent der Zweitstimmen erringt und dennoch alle Wahlkreise eines Bundeslandes erobert, ein Überhangmandat bekommen. Das jedoch hat es in Deutschland noch nie gegeben. Aber eine solche Lösung wäre den Professoren wohl zu einfach – und den Politikern schon zu weitgehend.

Autor: Peter Stützle

Redaktion: Dеnnis Stutе