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PolitikEuropa

Athen und Ankara streiten über Flüchtlinge

Florian Schmitz Thessaloniki | Burcu Karakaş Istanbul
18. Oktober 2022

Die griechische Polizei greift an der Grenze zur Türkei eine Gruppe unbekleideter Migranten auf. Athen und Ankara beschuldigen sich gegenseitig. Gleichzeitig bringt ein Bericht der EU Griechenland in Bedrängnis.

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Athen verschärft Grenzschutz am Fluss Evros
Flüchtlinge wärmen sich am Grenzfluss Evros, Archivfoto von März 2020Bild: Ahmed Deeb/dpa/picture alliance

Die griechisch-türkische Landgrenze am Fluss Evros ist militärisches Sperrgebiet. Nur selten gewährt die griechische Regierung visuelle Eindrücke von dem, was sich dort zuträgt. Regelmäßig berichten Asylsuchende von Misshandlungen durch griechische und türkische Behörden. Umso überraschender sind die Fotos, die der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis vor wenigen Tagen auf Twitter teilte. Die Bilder zeigen gut zwanzig unbekleidete Männer auf einer Wiese, umgeben von Schilf. Sie verdecken ihr Geschlecht mit den Händen. Einige von ihnen kauern auf dem Boden, aufgereiht, als hätte jemand ihnen den Befehl gegeben, diese Position einzunehmen.

Karte der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei
auf dem Festland bildet der Fluss Evros die Grenze

Angaben des griechischen Migrationsministeriums zufolge, sind die Männer auf dem Bild Teil einer Gruppe von 92 Asylsuchenden aus Afghanistan, Syrien, Palästina, Marokko und dem Iran. Das Ministerium gibt an, die Männer seien von den türkischen Behörden gezwungen worden, sich auszuziehen und dann mit kleinen Booten über den Evros-Fluss auf die griechische Seite überzusetzen. Dort hätte die griechische Polizei sie aufgegriffen.

Migrationsminister Mitarakis sprach von einem "Verbrechen gegen die Zivilisation" und forderte Ankara per Twitter auf, eine Untersuchung einzuleiten. Auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex war an dem Einsatz beteiligt. Auf Anfrage der Deutschen Welle teilte die Agentur mit, dass am Evros agierende Frontexbeamte "die griechischen Behörden bei der Rettung am vergangenen Freitag (14.10.2022) von 14 der 92 Migranten unterstützt haben." Die Männer seien "beinahe nackt" gewesen. Einige hätten sichtbare Verletzungen aufgewiesen. Auf Nachfrage bestätigte Frontex, dass die griechische Polizei die Männer lokalisiert und Frontex dann um Hilfe gebeten habe.

Türkei dementiert Vorwürfe

Die Türkei weist die Vorwürfe von sich. Ankara bezichtigt Athen, Migranten auf unmenschliche Weise zu behandeln und illegale Pushbacks zu vertuschen. Der türkische Minister für Inneres, Mevlüt Cavusoglu, kritisierte, die griechische Seite nutze die Fotos der nackten Männer, ohne genaue Daten zur Zeit oder Ort des Vorfalls zu teilen. Eine Anfrage der DW beim zuständigen Ministerium für Zivilschutz in Athen, die Metadaten der Fotografien zu teilen oder zum Vorfall Stellung zu nehmen, blieb unbeantwortet.

Der Fluss Evros durchschneidet eine grüne Landschaft. Er bildet die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei
Der Fluss Evros bildet die Grenze zwischen Griechenland und der TürkeiBild: Cihan Demirci/AA/picture alliance

Tugce Duygu Koksal, Migrationsanwältin und Direktorin des Zentrums für Menschenrechte in Istanbul, verweist auf den Zeitpunkt, an dem der Migrationsminister die Fotos veröffentlichte: "Der Tweet kam, kurz nachdem der OLAF-Bericht veröffentlicht wurde, in dem Griechenland beschuldigt wird, Menschenrechtsvergehen bei illegalen Rückführungen zu dulden." Koksal vermutet, dass die griechischen Behörden mit der Veröffentlichung der Bilder versuchen würden, von negativen Reaktionen auf den Inhalt des Berichts von OLAF, des europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung, abzulenken.

Verstößt der Frontex-Einsatz gegen EU-Recht?

Mitte Oktober 2022 hatte das Nachrichtenmagazin Spiegel den OLAF-Bericht zur Rolle von Frontex bei Pushbacks an der griechisch-türkischen Grenze veröffentlicht. Bei Pushbacks wird Flüchtenden an der Grenze das Recht verwehrt, Asyl zu beantragen. Das aber verstößt gegen geltendes europäisches und internationales Recht. Die Autoren des Berichts schlussfolgern, dass Frontex von den Rechtsbrüchen der griechischen Behörden wusste und sie somit deckte. Aus Online-Chats und Emails, die der Behörde vorlagen, geht hervor, dass auch bei konkreten Verdachtsfällen hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen der zuständige Fundamental Rights Officer nicht informiert wurde. Im April 2022 war nach Medienberichten der Druck auf Frontex so groß, dass der damalige Direktor Fabrice Leggeri zurücktrat.

Ein griechischer Grenzschützer patroulliert an einer Grenzmauer aus Betonstreben am Fluss Evros
Ein griechischer Grenzschützer patroulliert an einer Grenzmauer am Fluss EvrosBild: Giannis Papanikos/AP Photo/picture alliance

Bei einer Debatte im Europäischen Parlament stellte sich die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johannsson, hinter die Grenzschutzagentur. Der Vorfall am Evros zeige, wie wichtig die Rolle von Frontex an den europäischen Außengrenzen sei. Omer Shatz, Völkerrechtler und juristischer Vorstand der Nichtregierungsorganisation Front-Lex erklärte gegenüber der DW, dass nach europäischem Gesetz der Einsatz von Frontex in Griechenland angesichts der Menschenrechtslage umgehend beendet werden müsse: "Der klägliche Versuch von Kommissarin Johannsson, die 92 Migranten als Feigenblatt zu missbrauchen, ist unsinnig. Wenn überhaupt zeigt der Vorfall, dass die Türkei kein sicheres Drittland für Flüchtlinge ist", so Shatz. Die Verantwortung liege nicht allein bei Frontex, sondern auch bei der EU-Kommission und den EU-Mitgliedsstaaten, die die Rechtsbrüche an den europäischen Außengrenzen duldeten.

Verlust von Rechtstaatlichkeit

Aus dem griechischen Migrationsministerium hieß es, dass die am Evros aufgegriffenen Migranten sich derzeit noch in Polizeigewahrsam befänden, und in den kommenden Tagen in das Empfangs- und Registrierungszentrum Fylakio transferiert würden. Seit Jahren berichten Medien und Nichtregierungsorganisationen von Gewalt gegen Asylsuchende an den europäischen Außengrenzen, sowohl von griechischer als auch von türkischer Seite. Beobachter kritisieren, der neue Vorfall am Evros zeige erneut, wie man Schutzsuchende für politische Spiele missbrauche.

Die griechische NGO Mobile Info Team in Thessaloniki erklärte gegenüber der DW, dass es sich bei dem Vorfall am Evros nicht um einen Einzelfall handle, sondern man seit langem ausschweifende Gewalt gegen Migranten an den griechischen Außengrenzen, aber auch im Inland registriere, darunter "gewaltsam erzwungene Entkleidung, willkürlicher Polizeigewahrsam, der Gebrauch elektronischer Schockwaffen, sowie körperliche und verbale Gewalt." Der Verlust von Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit an den europäischen Außengrenzen sei beschämend.

Porträt eines Mannes mit braunen Haaren und Bart
Florian Schmitz Reporter mit Schwerpunkt Griechenland