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Soziale Proteste in Israel

Bettina Marx3. April 2012

Benzinpreiserhöhungen führen nicht nur in Deutschland zu Protesten. Auch in Israel gab es am vergangenen Wochenende erste Demonstrationen gegen die Preissteigerungen. Abstiegsängste hat vor allem die Mittelschicht.

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Demonstranten in Tel Aviv protestieren gegen Preissteigerungen mit Plakaten und einem entstellten Foto von Ministerpräsident Netanjahu. Foto: epa
Bild: picture-alliance/dpa

Sie sind wieder da, die Demonstranten, die in Israel auf die Straße gehen und gegen soziale Ungerechtigkeit protestieren. Am letzten Samstag zogen in Tel Aviv einige Hundert Menschen durch die Innenstadt und protestierten gegen die Erhöhung der Preise, vor allem für Benzin und Strom. Doch die Parolen haben sich geändert seit der großen Protestwelle des letzten Sommers, sie sind schärfer geworden. Skandierten die Demonstranten im letzten Jahr noch "Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit", so hieß es bei der spontanen Demonstration am letzten Samstagabend: "Das Volk macht die soziale Revolte." Und immer wieder ertönte der Ruf: "Mered, mered" - Revolte, Revolte!

Auch dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Benzinpreise im letzten Moment doch wieder um einige Cents absenkte, kann die Demonstranten nicht beruhigen. Der Aktivist Oren Pasternak, einer der Organisatoren der Proteste reagierte im israelischen Fernsehen voller Verachtung. Die Preissenkung sei nicht mehr als eine Propagandamasche des Regierungschefs, sagte er und fügte hinzu: "Diese Regierung lädt alles auf der Mittelschicht ab, auf uns, die wir die Steuern bezahlen, die wir studieren, zur Armee gehen und den Reservedienst absolvieren."

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (Archivfoto vom 07.07.2011). Foto: dpa
Israels Ministerpräsident Netanjahu rechtfertigt die PreiserhöhungenBild: picture-alliance/dpa

Die Mittelschicht schrumpft

In der Tat ist es die Mittelschicht, die in Israel die Hauptlast schultert. Es sind die Angestellten, Lehrer, Facharbeiter, Kaufleute, Ärzte und Hochschullehrer, die mit ihren Steuern die steigenden Staatsausgaben tragen. Die meisten von ihnen aber verfügen noch nicht einmal über das Durchschnittseinkommen von 8558 Shekel, ungefähr 1650 Euro, erläutert der Wirtschaftswissenschaftler Shir Hever. "Dreiviertel der israelischen Bevölkerung verdienen weniger als das Durchschnittseinkommen und nur ein Viertel verdient viel mehr. Das bedeutet, dass für die große Mehrheit der Bevölkerung das Durchschnittseinkommen ohne jede Bedeutung ist. Das wirkliche Einkommen der Bevölkerung ist viel niedriger und die wirtschaftliche Lage ist viel schlimmer, als die Zeitungen schreiben."

In den letzten elf Jahren sei das Durchschnittseinkommen zwar um 26 Prozent gestiegen. Gleichzeitig seien jedoch auch die Preise gestiegen, so dass in dieser Zeit die Kaufkraft um 3 Prozent zurückgegangen sei. Parallel dazu habe sich die Schere zwischen reich und arm weiter geöffnet. Heute gehört in Israel nur noch gut ein Drittel der Bevölkerung der Mittelschicht an, in Deutschland ist es mehr als die Hälfte. "Die Mittelschicht wird immer schwächer und die Armutsrate steigt", stellt Hever fest. "Heute gelten 26 Prozent der Bevölkerung und 32 Prozent der Kinder als arm. Israel hat damit heute die höchste Armutsrate in der OECD, sie ist höher als die in Mexiko."

Neue Proteste gegen soziale Ungleichheit

Im letzten Jahr gingen die Israelis erstmals in großer Zahl auf die Straße, um gegen die wachsende Armut und die Ungleichheit zu protestieren. In Tel Aviv entstand eine ganze Zeltstadt, in der Studenten, Obdachlose und Familien wochenlang kampierten. An jedem Wochenende gab es Demonstrationen im ganzen Land, an denen bis zu einer halben Million Menschen teilnahmen. Für den kommenden Sommer planen die Aktivisten eine Neuauflage der Massendemonstrationen. Der Unmut der Bevölkerung entzündet sich vor allem an den Privilegien, die Ultra-Orthodoxen genießen. Sie stellen in Israel mit fast zehn Prozent der Bevölkerung eine mächtige Interessengruppe dar, die durch einflussreiche Parteien vertreten wird. Sie sind vom Militärdienst weitgehend ausgenommen, sie bekommen spezielle Zuwendungen für ihr Schulsystem und sie profitieren von den staatlichen Ausgaben für kinderreiche Familien.

Die Bilder zeigen Zelte der Protestbewegung in der Zeltstadt auf dem Rothschildboulevard in Tel Aviv. Aufgenommen wurden sie am 7.8.2011 Foto: G. Oschatz
Im letzten Sommer errichteten Demonstranten in Tel Aviv eine Zeltstadt des Protests gegen zu hohe Mieten.Bild: Cohen-Oschatz

Trotzdem, so der Wirtschaftsexperte Shir Hever, beliefen sich die Zuwendungen für die Ultra-Orthodoxen nur auf eine Milliarde Shekel pro Jahr, rund 200 Millionen Euro. Das sei viel weniger, als das, was andere Interessengruppen bekämen, z.B. die Angehörigen der Sicherheitskräfte oder die Unternehmer. Das meiste Geld erhielten jedoch die Siedler, oder, wie der linke Wissenschaftler Hever, der derzeit in Deutschland lebt, sie nennt "die Kolonisten": "Die Kolonisten bekommen spezielle Zuwendungen von über drei Milliarden Dollar im Jahr. Das ist mehr als Zehnfache dessen, was die Ultra-Orthodoxen bekommen."

Die Besatzung wird nicht in Frage gestellt

So subventioniert der Staat die Wohnungen in den besetzten Gebieten. Sie sind damit um 50 Prozent billiger als die im Zentrum des Landes. Die Siedler bezahlen weniger Steuern, und der Staat investiert Unsummen in ein Straßennetz, das nur den Siedlern vorbehalten ist und das Palästinenser nicht nutzen dürfen. Viel Geld fließt außerdem in die Sicherheit der israelischen Bürger in den besetzten Gebieten. Für Hever steht daher fest: die Siedlungen und die Besatzung sind das größte Problem für die israelische Wirtschaft.

Doch die soziale Protestbewegung hat sich bislang gescheut, die Siedlungspolitik zu thematisieren. Man fürchtete, dass man sonst schnell in eine linke politische Ecke gedrängt und von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnt würde. Doch das könnte sich ändern, wenn die Preise weiter steigen, die Belastungen der Mittelschicht weiter zunehmen und die Ausgaben für die Siedlungen und die Aufrechterhaltung der Besatzung weiter zunehmen. Dann könnte sich der Zorn der Bevölkerung auch gegen die Siedlungspolitik richten.