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Presseschau: Sarrazins Abberufung

3. September 2010

Thilo Sarrazin muss nun wohl doch seinen Hut nehmen. Es ist ein einmaliger Vorgang, dass die Bundesbank ein Vorstandsmitglied abberuft. Und ein dankbares Thema für Kommentatoren. Eine Auswahl an Pressestimmen.

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Zeitungen (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Mit dem Antrag auf Entlassung hat die "Affäre Sarrazin" einen neuen Höhepunkt erlangt. Nicht nur Politiker und Vorstandsmitglieder der Bundesbank diskutieren erregt über die Thesen Thilo Sarrazins. Auch in den Kommentarspalten der internationalen und nationalen Zeitungen findet das Thema am Freitag (03.09.2010) seinen Widerhall.



Le Figaro (Frankreich)

"Diesmal ist Thilo Sarrazin, der für seine rassistischen Erklärungen bekannt ist, zu weit gegangen. Seine Thesen haben ihn letztendlich seinen Posten im Vorstand der Bundesbank gekostet. Sarrazin hat sich mit seinen Theorien über ein 'jüdisches Gen' und seine giftigen Angriffe auf muslimische Einwanderer den Zorn der gesamten politischen Klasse in Deutschland zugezogen, mit Ausnahme der Neonazi-Parteien. (...) Die 'Affäre Sarrazin' hätte die Chancen von Bundesbank-Präsident Axel Weber als Nachfolger von Jean-Claude Trichet an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) gefährden können."

Neue Zürcher Zeitung (Schweiz)

"Die Notenbank hatte bereits am Montag Stellung zu den diskriminierenden Äußerungen ihres Vorstandsmitglieds genommen. Der für die Zentralbank ungewohnt scharfe Ton hatte darauf schließen lassen, dass es die Bundesbankspitze ausgesprochen leid war, ihren Ruf durch die Voten Sarrazins derart ramponiert zu sehen. Tatsächlich war die Missachtung des Verhaltenskodexes der Bundesbank für den Abberufungsantrag wohl maßgebend. Der Kodex verlangt von den Vorständen, dass sie sich jederzeit - auch als Privatpersonen - so verhalten, dass das Ansehen der Notenbank und das Vertrauen der Bevölkerung in die Institution gefördert werden."

Der Standard (Österreich)

"Wenn schon, denn schon, nur nicht kleckern! Da überschlagen sich die Medien, der Rummel setzte schon mit Vorabdrucken ein, als könnten die Prophezeiungen eines auferstandenen Nostradamus gar nicht rasch genug unters Volk gelangen, und er setzt sich fort, indem man sich in Beteuerungen überschlägt, er gehe zwar von seriösem Datenmaterial aus, komme damit aber zu provokanten Schlüssen. Aufrechte Rechtsradikale, die keine Statistiken brauchen, sondern der Stimme des Blutes folgen, um zu denselben Schlüssen zu gelangen, können einem richtig leidtun. Ihr Talent, Finger in die Wunden der Zeit zu legen, wird medial kaum gewürdigt, obwohl sie es schon viel länger pflegen."

Thilo Sarrazin und Buchcover 'Deutschland schafft sich ab' (Foto: AP/Montage: DW)
Sarrazin und das Cover seines Buches, das die Debatte auslösteBild: AP/DW-Fotomontage

Auch in den meisten deutschen Tageszeitungen findet das Thema Beachtung:

Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Die Kanzlerin und zuletzt auch der Bundespräsident ließen öffentlich und mehr als deutlich erkennen, dass sie das Vorstandsmitglied Sarrazin nicht mehr für tragbar hielten, weil er das Ansehen der Bundesbank und der ganzen Republik beschädige. Damit machten sie aus einem Buch eine Staatsaffäre. Kleiner geht es in Deutschland offenbar nicht, wenn einer nachhaltig an dem Märchen rüttelt, in Sachen Einwanderung und Integration sei oder werde jedenfalls schon alles gut."

Tageszeitung (Berlin)

"Deutschland hat einen neuen Märtyrer: Thilo Sarrazin. Schon bisher posierte er als die verfolgte Unschuld, die nur ausspricht, was die Funktionäre nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Jetzt hat der Vorstand der Bundesbank einstimmig beschlossen, beim Bundespräsidenten zu beantragen, Sarrazin abzuberufen. Damit hat er nun schriftlich, dass er ein Opfer ist: In einem freien Land wird ihm die freie Meinungsäußerung verwehrt. Daraus lassen sich wunderbare Verschwörungstheorien basteln, die Publikum und Leser anlocken."

Die Welt (Berlin)

Die Entscheidung der Bundesbank, sich von Thilo Sarrazin zu trennen, war nach dessen Äußerungen zur genetischen Besonderung von Juden zu erwarten. Der Vollzug mag Angela Merkel, Christian Wulff und einige andere Freunde des politisch Korrekten erleichtern, doch die Popularität von Sarrazin wird dies eher befördern als beschneiden. (...) So vulgärdarwinistisch die Gesellschaftstheorie Sarrazins auch sein mag, so wissenschaftlich diffus und argumentativ konfus, so unleugbar sind viele Detailbeschreibungen über das wachsende und nicht abnehmende Elend in den türkischen und arabischen Familien, die überproportional häufig Sozialtransfers empfangen, schulisch versagen und jedwede Bemühungen zur Integration unterlassen. Sarrazins krummem Buch gebührt das Verdienst, auf diese Missstände denkbar massentauglich hinzuweisen."

Handelsblatt (Düsseldorf)

"Nach fast einer Woche vollzieht die Bundesbank, was Regierung und Bundespräsident ihr nahe gelegt haben: Sie beantragt die Abberufung ihres Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin. Der wird versuchen, sich zum Märtyrer zu stilisieren, was ihm hoffentlich nicht gelingen wird. Wer die Bundesbank in Verbindung bringt mit kruden Vererbungstheorien, die die nötige Distanz zu unseligen Entartungsthesen vermissen lassen, schadet ihr und der Bundesrepublik. Weber hatte keine andere Wahl, als sich von Sarrazin zu trennen. Lange genug hat es gedauert."

Redaktion: Martin Muno