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Pressestimmen von Dienstag, 4. Juli 2006

Frank Wörner3. Juli 2006

Kompromiss zur Gesundheitsrefom

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Der Kompromiss von Union und SPD zur Reform des Gesundheitswesens steht im Blickpunkt der Kommentatoren der deutschen Tagespresse.

Zu diesem Thema schreibt der WIESBADENER KURIER:

"Was nach nächtlichem Marathon als tiefgreifende Reform etikettiert wird, taugt mit der Einrichtung des Gesundheitsfonds bestenfalls als Hülse für tatsächliche Veränderungen im medizinisch-industriellen Sektor - irgendwann später. Ansonsten bleibt erst einmal alles beim alten: Kassendefizite werden durch höhere Beiträge ausgeglichen, die Kinderversicherung über Steuern folgt in zwei Jahren, in winzigen Teilschritten und mit ungeklärter Finanzierung, Strukturänderungen harren noch der Planung im Detail. Da wurde weit mehr vertagt als reformiert."

Ähnlich äußert sich die WESTDEUTSCHE ZEITUNG aus Düsseldorf:

"Die so genannten Eckpunkte zur Gesundheitsreform sind so enttäuschend, dass man die Bundesregierung am liebsten auffordern möchte, den Argentiniern und Brasilianern zu folgen und die Koffer zu packen. Aus dem mit Abstand wichtigsten Projekt der Koalition ist ein linkischer Tritt in den Rasen geworden, über den man nicht mal lachen kann. Zusammenfassend lässt sich sagen: Eigentlich bleibt fast alles beim Alten, nur die Kassenbeiträge steigen - was auch nichts Neues ist."

Die OSTSEE-ZEITUNG aus Rostock bemängelt:

"Das eigentliche Ziel, Arbeitskosten zu senken, um Arbeitsplätze zu schaffen, ist kläglich auf der Strecke geblieben. Statt Einsparungen und Strukturreformen in der Gesundheitsindustrie auf den Weg zu bringen, haben sich Schwarz und Rot auf das verständigt, was sie derzeit am besten beherrschen: die Politik der nehmenden Hand."

Auch die RHEIN-NECKAR-ZEITUNG aus Heidelberg kritisiert die steigenden Abgaben für Versicherte und Arbeitgeber:

"Der Gipfel der schwarz-roten Handlungsblockade ist die Flucht in neue Beitragserhöhungen. Das hätte man auch in zehn Minuten, statt in zehn Nachstunden verabreden können. Dass hier schwer gerungen wurde, soll ja nicht in Abrede gestellt werden. Aber heraus kam lediglich ein besserer Risikoausgleich für die Gesetzlichen Kassen, der mit viel Bürokratie erkauft wird und der Einstieg in den Ausstieg aus dem funktionierenden Privatversicherungs-Modell."

Der Berliner TAGESSPIEGEL stellt fest:

"Am Ende bleibt das, was die große Regierungskoalition jetzt als große Gesundheitsreform präsentiert hat, ein komplettes Desaster. Übrig geblieben sind von all dem großen Gerede über grundlegendes, über Jahre beständiges Reformwerk, an dem sich diese Regierung messen lassen muss: eine saftige Beitragserhöhung, eine neue Geldverteilungsinstitution und Kleckerkram. Dafür braucht man keine große Koalition. Dafür braucht man noch nicht einmal eine Bundesregierung. So etwas können Krankenkassen allein."

Nach der Einigung bescheinigt die FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND der Koalition Versagen in Sachen Reformwillen:

"Gäbe es noch irgendeine wirksame politische Kontrollinstanz im Land, deren Urteil müsste eindeutig sein: So geht es nicht. Durchgefallen! Die seit Monaten vorbereitete große Gesundheitsreform, das innenpolitische Schlüsselprojekt der Kanzlerin, erweist sich als ein Sammelsurium von widersprüchlichen Reformbauteilen. Wohin das Gesundheitssystem langfristig steuert, ist auch nach diesem Kompromiss unklar. Fest steht allein, dass kurzfristig abkassiert wird und zwar munter nach der Devise: Was schert uns unser Geschwätz von gestern."

Die ESSLINGER ZEITUNG erwartet eine verzögerte Reaktion auf die Koalitionsbeschlüsse:

"In einer Nacht-und-Nebel-Aktion und parallel zum Rummel der Fußball-WM peitscht die Große Koalition zurzeit gesetzliche Änderungen durch, die die Bürger in ihrer kollektiven Euphorie höchstens wie durch einen Lärmschutzwall erreichen, die sie aber vom 1. Januar 2007 an höchst empfindlich am Geldbeutel treffen werden. Für die Zeit nach der WM muss sich die Bundesregierung wohl doch auf einen Aufschrei gefasst machen."

Der Bonner GENERAL-ANZEIGER kritisiert:

"Dieser Regierung fehlt die Peilung, sie hat gewissermaßen keinen schwarz-roten Faden. Das Prinzip Merkel sind nicht weitreichende Visionen, sondern eine Schritt-für-Schritt-Politik, also Reförchem, die nicht zum Beinbruch werden."

Der KÖLNER STADT-ANZEIGER vermutet hinter den Beschlüssen vor allem eigene Interessen der Parteien und fragt:

"Wie ist es möglich, dass eine so große Gestaltungsmehrheit einen so großen Unsinn fabriziert? Die Generalsekretäre von SPD und CDU, Heil und Pofalla, haben einen Hinweis geliefert. '8:2 für die SPD' sei der Verhandlungsmarathon ausgegangen, sagte Heil. 30 Minuten später konstatierte Pofalla 'tragfähige Kompromisse, in denen die Handschrift der Union klar zu erkennen ist'. Und wir dachten schon, es ginge um das Land."

Die FRANKFURTER NEUE PRESSE sieht den Ruf von Kanzlerin Merkel gefährdet:

"Wer am Sonntag noch mit dem Versprechen zitiert wird, die von der SPD geforderte Steuererhöhung abzuwehren, in der folgenden Nacht aber Beitragserhöhungen zustimmt - die im Ergebnis schließlich das Gleiche bedeuten -, muss sich über ein negatives Echo nicht wundern."

Und der NORDBAYERISCHE KURIER aus Bayreuth befürchtet bereits ein vorzeitiges Ende der Große Koalition in Gefahr:

"Jetzt ist klar: Groß heißt noch lange nicht kraftvoll. Nie seit Merkels Wahl zur Kanzlerin war klarer, wie begrenzt der Vorrat an Gemeinsamkeiten und die Gestaltungsfähigkeit der großen Koalition sind. Die Zweifel wachsen, ob beides für vier gemeinsame Regierungsjahre ausreicht."