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Pressestimmen von Donnerstag, 4. Juli 2002

Roswitha Schober4. Juli 2002

Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Wirtschaft / 'Kopftuch-Urteil' des Bundesverwaltungsgerichtes

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Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder zur Wirtschaftspolitik ist das vorrangige Kommentarthema der Tageszeitungen. Große Beachtung findet auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, demzufolge nunmehr Lehrerinnen muslimischen Glaubens während des Schulunterrichts kein Kopftuch tragen dürfen.

Zur Regierungserklärung schreibt die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG:

"Der Kanzler konnte sich kurz fassen. Wovon sollte er in seiner Regierungserklärung zur Wirtschaft auch sprechen, wenn die wirtschaftspolitische Schlussbilanz seiner Bundesregierung nach vier Jahren auf der Sollseite deutlich mehr ausweist als im Haben? [...] Nur um eine Botschaft an seine in der Sommerpause um Wählerstimmen kämpfenden Anhänger ging es dem Kanzler. Sie lautet: Nur die Sozialdemokraten werden genügend Rücksichten auf die Gewerkschaften nehmen, wenn nach der Wahl tatsächlich eine neue Ordnung für den Arbeitsmarkt gefunden werden muss. [...] Sie erfordert eine klare Antwort von Kanzlerkandidat Edmund Stoiber. Der hat es vorgezogen, Schröder nicht direkt zu entgegnen. Bald aber sollte der Wähler wissen, ob wenigstens die Union beherzt anpacken will, was unter Rot- Grün liegen geblieben ist."

Der BERLINER KURIER kommentiert:

"Das war nun der letzte Paukenschlag im Parlament vor den Ferien und der Wahl. Nun müssen wir - die Wähler - entscheiden, welche Politik wir für besser halten, um zu mehr Jobs und Geld zu kommen. Das wird nicht einfach werden. Die Unterschiede sind nicht groß. Hartz Papier hin und her. Die großen Gedanken hat weder Kanzler Schröder noch sein Herausforderer Edmund Stoiber. Stoiber kam erst gar nicht in den Bundestag. Er wusste schon vorher, dass er gestern dort keinen Blumentopf gewinnen konnte. Denn das wegweisende Licht aus dem Tunnel hat uns bisher keiner der beiden Kontrahenten zeigen können."

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG meint zur Abwesenheit Edmund Stoibers:

"Stoiber hat sich dem Duell mit dem Kanzler im Bundestag nicht gestellt und stattdessen unweit vom Parlament in einem Hotel zum selben Thema geredet. Das war ungeschickt, weil es ihm als Feigheit vor dem Kanzler ausgelegt werden könnte. Zum groben Fehler wurde Stoibers Absenz freilich mit der peinlichen Erklärung, die er dafür geliefert hat. Stoibers herablassende Bemerkung über das Parlament fiel zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt: Just dann, als sich mit der Abschiedsrede von Theo Waigel eine ganze Politikergeneration aus dem Bundestag verabschiedete."

Das Düsseldorfer HANDELSBLATT findet es "schlicht blamabel", wenn der Unions-Kanzlerkandidat auf eine Regierungserklärung zur Wirtschaft nicht persönlich antwortet, und schreibt weiter:

"Schließlich geht es in diesem Wahlkampf in erster Linie um Wirtschaft und Arbeitsplätze. Hat Stoiber nicht genau diese Themen in den Mittelpunkt gerückt? Hat er nicht stets die größere wirtschaftliche Kompetenz für sich beansprucht? Was also hindert ihn jetzt wieder einmal daran, sich auf offener Bühne mit seinem Konkurrenten zu messen? Immerhin strebt Stoiber nicht mehr und nicht weniger an als das Amt des Bundeskanzlers. Dafür muss man zwar nicht am Zaun der Regierungszentrale rütteln. Im Bundestag aber sollte man sich doch gelegentlich einmal sehen lassen. Es ist wohl die Angst vor dem unkontrollierbaren Wortgefecht, die Stoiber das Parlament meiden lässt [...]. Sollte Stoiber die Wahl gewinnen, wird er sich umgewöhnen müssen."

Themenwechsel.
Eine aus Afghanistan stammende Lehrerin hatte dagegen geklagt, dass Baden-Württemberg ihre Aufnahme in den Schuldienst verweigert, weil sie während des Unterrichts ein Kopftuch tragen wollte. Das Bundesverwaltungsgericht hat vorangegangene Urteile bestätigt, die beinhalteten, dass Lehrerinnen muslimischen Glaubens vor der Klasse kein Kopftuch tragen dürfen.

Dazu schreibt die BERLINER ZEITUNG:

"Das Kopftuch, über das das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat, war nicht an der Wand eines Klassenzimmers befestigt, sondern auf dem Kopf der Grundschullehrerin Fereshta Ludin. Wie die Vorinstanzen erkennen die Bundesrichter aber in dem Tragen des Kopftuchs einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot und verweigern Ludin den Zugang zum staatlichen Schuldienst. Das Problem ist nicht das Kopftuch, sondern der Blick der Judikative - er sieht nicht die Trägerin, sondern nur deren Bekenntnis, das ihm nicht gefällt. Nicht Fereshta Ludin, sondern die deutschen Gerichte verletzen das Neutralitätsgebot. Das Bundesverfassungsgericht wird es ihnen noch einmal erklären müssen."

Nach der Frage, ob der Kampf um die deutsche Leitkultur jetzt auch die Religionsfreiheit erfasst habe, schreibt DIE WELT weiter:

"Die freie Entscheidung der Lehrerin, als Muslimin ein Kopftuch zu tragen, ist und bleibt unangetastet. Vor Gericht klagte nicht eine Muslimin, sondern eine Lehrerin. Und der Staat darf sehr wohl bestimmen, wer an seinen Schulen in seinem Auftrag unterrichtet. Er darf von diesen Menschen verlangen, weltanschaulich neutral aufzutreten. Religionsfreiheit genießen auch die Schüler und deren Eltern, die sich nicht permanent dem Symbol einer fremden Religion ausgesetzt sehen müssen."

Der MANNHEIMER MORGEN meint:

"Kein Kopftuch in Klassenzimmern - die Berliner Richter sind nicht der Versuchung erlegen, das verfassungsrechtliche Gebot der Neutralität aufzuweichen, um mit ihrem Urteil ein gesellschaftspolitisches Zeichen für mehr Toleranz gegenüber
kulturellen Minderheiten zu setzen. Man sollte sich davor hüten, die Entscheidung von Berlin als Bestätigung für die Dominanz der abendländischen Kultur misszuverstehen."