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Pressestimmen von Freitag, 20. Oktober 2006

Christoph Schmidt 19. Oktober 2006

Herbstgutachten zur Konjunktur / Berlin scheitert vor BVG

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Die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute kommen in ihrem Herbstgutachten zu gemischten Resultaten: Nach einem soliden Wachstum im laufenden Jahr, soll sich die Konjunktur im nächsten Jahr stark abschwächen. Die möglichen Auswirkungen der geplanten Mehrwertsteuererhöhung ließen die Wirtschaftsweisen im Dunkeln, pochten aber auf ein höheres Reformtempo der Politik. Ein weiteres Thema dieser Presseschau ist die gescheiterte Klage Berlins auf Sanierungshilfen vor dem Bundesverfassungsgericht.

Die Chemnitzer FREIE PRESSE bemerkt zum Herbstgutachten:

"In einem waren sich die Konjunkturforscher einig: Das zweithöchste Wirtschaftswachstum der vergangenen zehn Jahre ist nicht der großen Koalition geschuldet. Das schwarz-rote Regierungsbündnis segelt seit Amtsübernahme vor rund einem Jahr bequem im Windschatten guter Weltkonjunktur und erfolgreicher Sanierungsbemühungen der Unternehmen. Ihre ankündigte Reformpolitik praktizieren sie dabei eher schlecht als recht. Das attestierten ihnen auch die sechs Wirtschaftsprofessoren."

Der KÖLNER STADT-ANZEIGER stellt hingegen den Gehalt der Prognose in Frage:

"Die sechs Institute laufen Gefahr, dass ihr Gutachten nicht mehr ernst genommen wird. Wem nützt eine Prognose, die nicht voraussagt, ob die Erhöhung der Mehrwertsteuer die Konjunktur nun abwürgt oder nicht? Wenn dann noch bei der Vorstellung des Gutachtens festgestellt wird, das Auf und Ab der Konjunktur gebe es immer, dann konterkarieren die Institute ihr eigenes Bemühen."

Auch die BRAUNSCHWEIGER ZEITUNG betont die Unwägbarkeiten:

"Das größte Wirtschaftswachstum seit der Jahrtausendwende trifft auf die größte Mehrwertsteuer-Erhöhung der bundesdeutschen Geschichte. Was tatsächlich passieren wird, steht in den Sternen, denn erstens haben wir keine Erfahrung mit einer Konsumsteuer-Erhöhung dieses Kalibers, zweitens unbekannte Faktoren, die die deutsche Konjunktur zusätzlich bedrohen könnten wie der Ölpreis, internationale Finanzkrisen oder Terrorakte, und drittens gibt eine schwer einschätzbare Komponente, und die heißt Schwarz-Rot. Das Kuddelmuddel, das die Regierung uns in Sachen Gesundheitsreform offeriert, gibt Anlass zu Befürchtungen im Hinblick auf die Unternehmenssteuer- und Arbeitsmarktreform."

Die ALLGEMEINE ZEITUNG aus Mainz meint:

"Uns geht es so gut wie seit sechs Jahren nicht mehr, bescheinigt der geballte Wirtschaftssachverstand dieser Republik. Alles in Butter also? Leider nein, denn die Experten sagen zugleich, dass die Große Koalition eine einmalige Chance verpasst, Deutschlands Volkswirtschaft neu zu strukturieren und damit wirklich zukunftsfähig zu machen. Der Merkel-Truppe fehlt der Wille zu wirklichen Veränderungen. Was wird die Kanzlerin tun?"


Themenwechsel: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Für das hochverschuldete Land Berlin wird es kein Notopfer des Bundes geben. Angesichts einer Schuldensumme von 60 Milliarden Euro wollte die Stadt in Karslruhe Sanierungshilfen einklagen. Stattdessen mahnten die Richter zu einem energischen Sparkurs.

Das MAIN-ECHO aus Anschaffenburg schreibt:

"Arm, aber sexy. Wowereits flapsigen Spruch über die Berliner Befindlichkeit haben die Verfassungsrichter listig umgedeutet: Die Hauptstadt macht zu wenig aus ihrem Sex-Appel. Das heißt auch: Berlin wird unter Wert regiert. So gesehen trifft es sich gut, dass SPD und Linkspartei in den Koalitionsverhandlungen bisher nicht weit gekommen sind und im Roten Rathaus jetzt mit dem Großen Feilschen beginnen können. Ein Verlierer steht dabei bereits fest: Für die Versäumnisse der Vergangenheit zahlen nicht Bund und Länder, sondern die Berliner Bürger."

Das BADISCHE TAGBLATT sieht das ganze föderale System gefordert:

"Das Urteil wird über den Tag hinaus wirken, wenn die Politik tut, was ihr das Gericht aufgegeben hat: Die bundesstaatlichen Finanzbeziehungen neu und angemessen zu regeln und ein gesetzliches Instrumentarium zu schaffen, mit dem Finanzkrisen zu verhindern oder zu bewältigen sind. Diese Aufgabe ist eine der schwierigsten, die das föderale System bereithält. Doch sie muss angegangen werden. Ohne Kompromisse auf kleinstem gemeinsamem Nenner."

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG kommentiert:

"Hätte das Verfassungsgericht Berlin recht gegeben, wäre das «ohnehin problematische Notinstrument» der Sanierungshilfen tatsächlich zum Regelwerkzeug geworden. Die Lösung, den Finanzausgleich neu zu ordnen, kann jedoch nicht das Verfassungsgericht liefern. Es rügt indirekt den Gesetzgeber, indem es eine «gravierende Schwäche des geltenden Rechts» anprangert, weil Regelungen zum Sanierungsfall fehlen. Eine Konkursordnung für den Bundesstaat zu schaffen ist tatsächlich Aufgabe des zweiten Teils der Föderalismusreform, die von Karlsruhe eindringlich verlangt wird."

Dagegen kritisiert die NEUE RUHR/NEUE RHEIN ZEITUNG aus Essen:

"Die Maßstäbe der Richter sind zweifelhaft. Was sie sich für den Rotstift einfallen ließen, hätte geistreicher sein müssen: Kultur, Wissenschaft. Vor allem darf man nicht - wie die Richter - Berlin mit Hamburg vergleichen. Berlin konnte in den Jahrzehnten der Teilung kein guter Standort sein. Hamburg konnte sich ruhig und gleichmäßig entwickeln. Der Berliner Senat musste ab 1990 den Ostteil integrieren. Und: Berlin ist die Hauptstadt. Darüber müssen sich die Länder auch einigen: Was sich Deutschland als Hauptstadt gönnen will."