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Pressestimmen von Mittwoch, 21. Juni 2006

Ute Wagemann20. Juni 2006

Hauhaltsdebatte im deutschen Bundestag // Kanzlerin Merkel auf dem "Tag der deutschen Industrie"

https://p.dw.com/p/8eZv

Im Bundestag haben Opposition und Regierung über den Haushalt für 2006 gestritten. Der Etat sieht Ausgaben von rund 261 Milliarden Euro vor und eine Neuverschuldung von rund 38 Milliarden Euro. Zahlreiche Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen beschäftigen sich mit dem Thema. Großes Interesse zeigten sie auch für Angela Merkel, die auf dem "Tag der deutschen Industrie" einen schweren Stand hatte.

In der Neuverschuldung des Bundeshaushalts sieht die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG ein großes Problem:

"(...) Wenn Deutschland ein «Sanierungsfall» ist, wie Bundeskanzlerin Merkel es ausdrückte, dann hilft ein Verschleppen der notwendigen Einschnitte nicht weiter. Bundesfinanzminister Steinbrück rechtfertigt die über jeder Norm liegende Nettokreditaufnahme mit der Absicht, der Wirtschaft den Schwung geben zu wollen, damit sie an-
schließend die Maßnahmen zur Konsolidierung des Haushalts besser verkraften kann. Doch mit hohen Staatsdefiziten lassen sich weder hohe Wachstumsraten noch ein hoher Beschäftigungsstand erkaufen."

Auch die ALLGEMEINE ZEITUNG aus Mainz kritisiert die Regierungsparteien:

"Das Tollste aber an dem, was die Große Koalition sich derzeit auf dem kleinsten ihr verbliebenen Nenner leistet, dokumentiert sich (...) in der Tatsache, dass auch der Ertrag aus der erst noch kommenden Steuererhöhung jetzt bereits schon wieder verfrühstückt ist. Zudem verabschiedet die Bundesrepublik ein weiteres Mal einen Haushalt, der nicht ohne weiteres den Vorgaben des Grundgesetzes entspricht. Es ist eine blamable Leistung von Schwarz-Rot, die
souveräne Mehrheit im Bundestag nicht zu mutigen Schritten der Konsolidierung zu nutzen (...).

Die FRANKFURTER RUNDSCHAU glaubt, dass ein Verlierer der Debatte die Opposition ist:

"Da mögen sich FDP, Grüne und Linkspartei im Bundestag noch so abstrampeln: In Zeiten der großen Koalition findet die eigentliche politische Auseinandersetzung nicht zwischen Regierung und Opposition statt, sondern innerhalb der Koalition. Das zeigt sich nicht nur bei Gesundheitsreform und Unternehmensteuern. Auch bei den Haushaltsberatungen sorgen allein die Reibereien zwischen Union und SPD für Spannung und Spannungen. Die gegenseitigen Vorwürfe der
Regierungsparteien legen nicht nur die Zerwürfnisse zwischen den Koalitionsparteien offen. Sie demonstrieren auch die Unzufriedenheit mit den eigenen Leistungen."

Der NORDBAYERISCHE KURIER aus Bayreuth sieht in Bayern ein Beispiel für den Bund:

"Auch wenn Steinbrück in den nächsten Jahren einige Milliarden neue Schulden weniger braucht, um seinen Haushalt ins Lot zu bringen, ändert dies am Grundproblem nichts: Der Staat lebt weiter munter über seine Verhältnisse, hat höhere Ausgaben als Einnahmen und braucht immer mehr Geld seiner Bürger zur Bedienung der Kredite. Geld, das
für Bildung, Verkehr, Soziales oder Kultur fehlt. Bayern hat einen Haushalt ohne neue Schulden geschafft. Der Bund muss den gleichen Weg gehen."

Bundeskanzlerin Merkel hat auf dem 'Tag der deutschen Industrie' kein Heimspiel gehabt. So forderte Industriepräsident Thuman ein höheres Reformtempo von der großen Koalition. Zahlreiche Kommentatoren der deutschen Presse beschäftigen sich mit dem Auftritt der CDU-Politikerin.

Das Ende eines Kuschel-Klimas erkennt der MÜNCHNER MERKUR:

"Enttäuschte Liebe schlägt oft in besonders heftige Abneigung um. Es hat den Anschein, als habe die Romanze zwischen den Wirtschaftskapitänen und der CDU-Kanzlerin gerade dieses kritische Stadium erreicht. Zwischen der Wirtschaft und der von ihr (...) zur Hoffnungsträgerin ausgerufenen Angela Merkel ist etwas zu Bruch gegangen. (...) Wie eines alten Kleidungsstücks hat sich Merkel nach ihrer Wahl zur Chefin der Großen Koalition ihrer alten Reform-Überzeugungen entledigt. Das weckt Zweifel, ob die Kanzlerin über einen inneren Werte-Kompass verfügt (...)- oder ob sie nur wie ihr Vorgänger nur dem eigenen Machttrieb folgt."

DIE WELT aus Berlin glaubt, die Kritik aus der Industrie werde Wirkung zeigen:

"Der Druck, den Angela Merkel beim BDI erfahren hat, müßte
heilsam sein. Dort wird man nicht wie bei den Gewerkschaften ausgebuht, aber wenn der Vorsitzende Thumann zum wiederholten Male sagt, der fehlende Mut der großen Koalition sei 'erschütternd', ist ein Punkt gemacht. 'Reform' wird zum Unwort, wenn damit nur Steuererhöhung, mehr Belastungen in der Gesundheit, in der Familie, mehr, mehr, mehr zugunsten eines hypertrophen Staates gemeint ist - und die steuerzahlende Mittelschicht blutet."

Die OSTSEE-ZEITUNG aus Rostock findet lobende Worte für die Kanzlerin:

"Merkel gab sich auf dem Tag der Deutschen Industrie zwar
grundsätzlich konservativ-unternehmerfreundlich, doch größere Steuergeschenke an die Wirtschaft sind von ihrer großen Koalition vorerst nicht zu erwarten. Als Genossin der Bosse hat sich die Ostdeutsche jedenfalls nicht angebiedert. Im Gegenteil. Das Grummeln der Industrie über höhere Mehrwertsteuer und Reichensteuer, über
Gleichbehandlungsgesetz und andere Konjunkturbremsen bzw. Bürokratiemonster ignorierte Merkel geflissentlich."

Die Haltung der Industrie untersucht auch die HEILBRONNER STIMME:

"Die deutsche Industrie ist mit der bisherigen Leistung der großen Koalition äußerst unzufrieden. Dass sich jetzt die Wirtschaftsverbände (...) von der Kanzlerin abwenden, und dabei aus dem Auge verlieren, was in Zeiten einer großen Koalition durchsetzbar ist und was nicht, zeugt von mäßigem Verständnis politischer Wechselwirkungen. Auf die Bürger werden neue Belastungen zu kommen. Wenn die Wirtschaft aber die Tonlage des Kritikerchors vorgibt, kann man das Wort Reform bald getrost durch Frust ersetzen."