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Pressestimmen von Montag, 30. April 2007

Siegfried Scheithauer 29. April 2007

Eskalation in der Türkei

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Das türkische Militär rasselt mit dem Säbel. Mitten in den Wahlen eines neues Präsidenten schickt es eine Warnung an die islamisch-konservative Regierung, die laizistische Verfassung nicht zu gefährden. Ist die Drohung mit einem Putsch wirklich ernst zu nehmen? Die deutschen Meinungsmacher sind nachdenklich geworden.

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE sieht die Türkei 'faktisch schon im Ausnahmezustand':

'Abdullah Gül, der Außenminister, soll Präsident werden. Diese Entscheidung hat die Militärführung brüskiert, die offenbar gehofft hatte, Ministerpräsident Erdogan werde einen für die eingeschworenen Kemalisten akzeptableren Wahlvorschlag machen. Anders ist die Schärfe der Erklärung nicht zu verstehen, mit der die Generäle wenige Stunden nach dem ersten Wahlgang, in dem Gül zehn Stimmen fehlten, an die Öffentlichkeit gegangen sind: Das türkische Militär droht mit einem Putsch', kommentiert die FAZ.

Die VOLKSSTIMME aus Magdeburg hat beobachtet:

'In der Person des Außenministers Gül spiegelt sich die ganze Widersprüchlichkeit der heutigen Türkei wider. Zum einen ist der Präsidentschaftskandidat ein pragmatischer, Europa zugewandter Reformer, zum anderen ein traditionsbewusster Muslim, dessen Frau für das Recht auf das Kopftuch schon vor dem Menschenrechtsgerichtshof gestritten hat. Wohin ginge die Reise für die Türkei unter einem solchen Präsidenten? Die Generäle sind sich sicher: Weg von den laizistischen Vorgaben Kemal Atatürks und hin zu einem islamischen Staat. Das fürchten auch hunderttausende Türken ohne Uniform, die gegen Gül und die Regierungspartei AKP auf die Straße gehen. '

Das HANDELSBLATT aus Düsseldorf fragt:

'Rollen bald wieder die Panzer durch Ankara? Wahrscheinlich nicht. Denn die Generäle haben ihr Instrumentarium politischer Intervention längst verfeinert. Das beweisen sie auch jetzt mit ihrem online gestellten und damit allgemein zugänglichen E-Memorandum. Schon die Absetzung des islamistischen Premiers Erbakan vor zehn Jahren zeigte: Bereits die bloße Androhung eines Putsches genügt. Darauf setzen die Militärs auch jetzt. Ihr Spiel mit dem Feuer ist deshalb aber nicht weniger gefährlich.'

Die KÖLNISCHE RUNDSCHAU hinterfragt die Begründung der Generäle:

'Dass die Putschdrohung der Generäle ernst zu nehmen ist, bezweifelt niemand. Doch besteht derzeit wirklich die Gefahr einer islamistischen Machtübernahme? Bisher gaben weder Regierungschef Erdogan, der wegen des erhofften EU-Beitritts strikten Westkurs betreibt, noch Gül konkreten Anlass zu solchen Befürchtungen. So lange sich die vom Volk gewählten Politiker an die Spielregeln der Verfassung halten, kann es für den Generalstab keinen Grund geben, die Demokratie zur Rettung der Demokratie abzuschaffen. Selbstmord aus Angst vor dem Tod nützt niemandem. '

Auch die STUTTGARTER ZEITUNG sucht den Frontenverlauf:

'Ein Militärputsch in der Türkei? Die Zeiten seien längst vorbei, winkten bis vor Kurzem viele Türken ab. Zu eng, so meinen viele, sei das Land inzwischen in den EU-Beitrittsprozess eingebunden. Diese Argumentation setzt voraus, dass die türkischen Generäle eine Integration ihres Landes in die EU überhaupt wollen. Aber das ist keineswegs mehr sicher.'

Die NÜRNBERGER ZEITUNG bringt in Erinnerung::

'Jahrzehntelang hatte die Europäische Union die Türkei mit Forderungen nach mehr Demokratie kujoniert (...). Dumm nur, dass damit zugleich Islamisten innerhalb und außerhalb der Regierungspartei AKP der Weg freigemacht wurde. Sollten sie eines Tages die Armee als Garanten der Trennung von Staat und Religion ausgeschaltet haben, werden sie wahrscheinlich zeigen, was sie wirklich von der Demokratie westlichen Zuschnitts halten.'

Auch der WIESBADENER KURIER äußert massive Zweifel:

'Ungeachtet aller schon eingeleiteten Reformen und Beitrittskapitel: Die Türkei wird erst dann Mitglied der europäischen Staatenfamilie werden können, wenn ihre Generäle nach einer Erklärung wie der vom Wochenende umstandslos und unverzüglich entlassen werden. Dass davon nach der unverhohlenen Putschdrohung des türkischen Generalstabs keine Rede sein kann, zeigt, wie sehr sich die Machtverhältnisse in Ankara (noch?) von einer normalen westlichen Demokratie unterscheiden.'

Der MANNHEIMER MORGEN analysiert:

'Ob die Armee tatsächlich interveniert oder nur blufft, ist eine spannende Frage. Offensichtlich will die selbst ernannte Hüterin der laizistischen Verfassung jedenfalls gemeinsame Sache mit der Opposition machen. Diese hat in der Vergangenheit die Türkei abgewirtschaftet und den Reformen der AKP nur düstere Warnungen vor einer Unterwanderung des Staates durch den Islam entgegengesetzt. Dass die Militärführung nicht sofort ausgetauscht werden kann, beweist, wie groß die Macht der Generäle am Bosporus noch immer ist.'

Kurz und bündig bringt es die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG auf den Nenner:

'Die Türkei muss wählen zwischen der Rückkehr in längst vergangene, finstere Zeiten und einer demokratischen Zukunft. Um nichts weniger geht es, und damit auch darum, ob die Türkei irgendwann ihren Platz in der EU finden kann oder ob sie einfach nicht nach Europa passt.'