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Pressestimmen zur Bundespräsidentenwahl: Merkels Makel

1. Juli 2010

Viele Kommentatoren sehen in der Denkzettelwahl Christian Wulffs zum Bundespräsidenten einen Rückschlag für die Bundesregierung und für Kanzlerin Angela Merkel.

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Themenbild Presseschau (Grafik: DW)
Bild: DW

"Rhein-Neckar-Zeitung" (Heidelberg): Kabale und Liebe

Mit der Niederlage des schwarz-gelben Kandidaten Wulff in zwei Wahlgängen wurde geradezu Lust am Untergang demonstriert. Die Präsidentenwahl, frei und geheim, wurde benutzt, um eine dicke Rechnung mit der Machtstrategie der Kanzlerin zu begleichen. Indem die Kanzlerin zu einem bürgerlichen, öffentlich mehrheitsfähigen und zudem ostdeutschen Kandidaten Gauck so schnell nein sagte, hat sie die Präsidentenwahl für ein Votum gegen ihre Pannenregierung freigegeben. Das Spiel von Kabale und Liebe ist den Beteiligten entglitten. Die beginnende Demontage der Regierung und der Kanzlerin hat ein erstes Datum: 30. Juni 2010. Weitere werden folgen.

"Cellesche Zeitung": Merkels Makel

Jetzt ist es an Christian Wulff, zu beweisen, dass er als Vertreter einer neuen Präsidenten-Generation die richtige Wahl für das höchste Amt im Staat war. Wenn ihm dies gelingt ­ und hieran besteht kein Zweifel ­, wird schon bald niemand mehr darüber sprechen, welch holprigen Start er hatte. Angela Merkel aber wird den Makel dieser Blamage nur schwer abschütteln können. Im Gegenteil: Sie mag nach Merz, Rüttgers und Koch wieder einen Konkurrenten weniger in der eigenen Parteispitze haben, die Luft für sie aber wird immer dünner. Wenn sie dies nicht endlich begreift und die Zügel in der Koalition in die Hand nimmt, kann aus dem Aufstand von gestern ganz schnell eine Meuterei werden.

"Stuttgarter Zeitung": Hoher Preis

Was uns die Wahl lehrt? Zum einen, dass es Rot-Grün nicht gelungen ist, eine Brücke zu einer Linkspartei zu schlagen, der man für den Beweis ihrer Politikuntauglichkeit dankbar sein muss. Zum anderen, dass Schwarz-Gelb eine gute Ausgangslage wieder einmal miserabel genutzt hat. Christian Wulff ist Bundespräsident. Merkel hat ihr Ziel erreicht - womöglich zu einem Preis, der zu hoch war, um sich richtig freuen zu können.

"Sächsische Zeitung" (Dresden): Verlierer Wulff

Auch Christian Wulff gehört nach diesem quälenden Nachmittag zunächst zu den Verlierern. Als Bundespräsident war er für das eigene Partei-Establishment offenbar nur dritte Wahl. Dennoch kann Wulff ein guter Präsident werden. Er besitzt das für dieses Amt wichtige Geschick zum Moderieren. Er bringt aus über 25 Jahren in der Politik Erfahrungen mit im Umgang mit den großen Konflikten der deutschen Gesellschaft.

"Mitteldeutsche Zeitung" (Halle): Angreifbar

Die gefühlte Niederlage wird nicht nur Wulff Angela Merkel anlasten. Zu chaotisch agiert ihre Regierung on Union und FDP. Zu eigenmächtig war ihre Kandidatenkür. CDU und CSU haben Merkels einsame Beschlüsse in den vergangenen Jahren zumeist zähneknirschend ertragen. Doch jetzt, wo sie offensichtlich das politische Glück verlassen hat, werden sich die verschiedenen Parteiströmungen und Landesfürsten das kaum länger bieten lassen. Erfolglosigkeit macht angreifbar. Die Kanzlerin hat die besseren Tage in ihrem Amt sicherlich hinter sich. Das Beben ist noch nicht zu Ende. Einige langjährige Gewissheiten und Allianzen könnten noch ins Wanken geraten. Erst dann wird der Wiederaufbau starten. Die Architekten werden dann vermutlich Sigmar Gabriel (SPD) und Jürgen Trittin (Grüne) heißen.

"Mittelbayerische Zeitung" (Regensburg): Linke nicht regierungsfähig

Jetzt ist Wulff gewählt, im dritten Wahlgang. Ein Sieg, der sich für Merkel wie eine Niederlage anfühlen muss. Gauck hatte also Recht: Wulffs Wahl stärkt Merkels Position keineswegs, im Gegenteil. Gerade aus der Unionsfraktion erhielt sie mehr Denkzettel als befürchtet. Ihr und der Regierung bleibt nur noch die Flucht nach vorn. Keine Streitereien mehr, kein Hin-und-her-Lavieren bei wichtigen Themen. Fleiß, Kreativität und ein gewisses Tempo sind angesagt. Merkel hoffte auf Rückenwind, stattdessen hat sich der Gegenwind verstärkt. Wulffs Wahl konnte nicht einmal den Flurschaden reparieren, den Horst Köhlers Rücktritt verursachte. Gaucks Chancen, den ganz großen Coup zu landen, waren trotz des Achtungserfolgs nie wirklich reell. Für viele bei den Linken mit DDR-Vergangenheit war er nicht wählbar. Gleichzeitig war dies der Beweis dafür, dass diese Partei zumindest auf Bundesebene noch nicht regierungsfähig ist.

"Berliner Zeitung": Anstöße geben

Der ideale Bundespräsident sollte allerdings nicht nur möglichst normal sein, sondern zugleich aus der Normalität herausragen. Er soll bodenständig sein, aber auch intellektuell brillant. Er soll überparteilich sein, aber auch ein klares Urteil haben. Der Bundespräsident kann nur durch Reden wirken. Der Redner Christian Wulff wird, so wie wir ihn kennen, wenig Falsches und garantiert nichts Anstößiges sagen. Aber kann er Anstöße geben?

Redaktion: Martin Schrader