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Politik

Proteste in Inguschetien beunruhigen Moskau

Elena Barysheva | Roman Goncharenko
13. Oktober 2018

In Inguschetien gehen die Menschen auf die Straße. Doch anders als im übrigen Russland solidarisieren sich Eliten und Polizei mit ihnen. Bei den Protesten geht es um eine umstrittene Grenze. Doch es steckt mehr dahinter.

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Inguschetien Protest in Magas gegen Grenzänderungen zu Tschetschenien
Protest in Inguschetiens Hauptstadt Magas (am 5. Oktober)Bild: Imago/Itar-Tass

Inguschetien ist selten in den Nachrichten und wenn, dann meist wegen seiner größeren Nachbar- und einstigen Schwesterrepublik Tschetschenien. So auch diesmal. Seit über einer Woche gibt es Straßenproteste in Magas, der Hauptstadt der muslimischen Nordkaukasusrepublik, die sich gegen eine neue regionale Grenze zu Tschetschenien richten.

Im Grunde geht es um viel mehr als um einen unerwartet breiten Widerstand gegen einen umstrittenen Verwaltungsakt. Manche Beobachter fühlen sich an die Endphase der Sowjetunion erinnert und sehen in den Protesten eine Warnung auch an Russland.

Undurchsichtiger Landtausch  

In der Sowjetunion waren Tschetschenien und Inguschetien Teile einer gemeinsamen autonomen Republik. Nach dem Zerfall der UdSSR Anfang der 1990er Jahre erklärte sich Tschetschenien für unabhängig, was später zu einem blutigen Krieg mit der Zentralregierung führte. Inguschetien blieb Russland treu. Heute sind beide eigenständige Teilrepubliken, doch eine administrative Grenze zwischen ihnen gab es bisher nicht.

Das soll sich nun ändern. Die Anführer beider Republiken, der Tschetschene Ramsan Kadyrow und der Ingusche Junus-Bek Jewkurow, haben Ende September ein Abkommen über die neue Grenze unterzeichnet und ließen es von ihren jeweiligen Parlamenten absegnen. Das Papier ist schwer durchschaubar und sieht angeblich einen gleichwertigen Landtausch vor. Manche Experten jedoch bezweifeln das und meinen, Tschetschenien würde deutlich mehr Land bekommen als es abgibt.

Bildergalerie Inguschetien
Ramsan Kadyrow und Junus-Bek Jewkurow nach der Unterzeichnung des umstrittenen GrenzabkommensBild: picture-alliance/dpa/TASS

Die Bevölkerung in Inguschetien ist ebenso misstrauisch und befürchtet, wichtige Teile ihrer Heimat würden von Tschetschenien einverleibt. Vor allem die Art der Vereinbarung, ohne öffentliche Vorbesprechung und quasi über die Köpfe der Menschen hinweg, löste Empörung aus.

Auf die Seite tausender Demonstranten in Magas stellten sich das Verfassungsgericht Inguschetiens und - für Russland besonders ungewöhnlich - Teile der Polizei. Augenzeugen berichten, wie Polizisten den Demonstranten Zustimmung signalisierten und sie vor Einheiten aus anderen Regionen in Schutz nahmen. Vielleicht aus diesem Grund wurde der Protest nicht wie sonst gewaltsam aufgelöst, sondern erlaubt. Die Hauptforderung der Demonstranten lautet, das Abkommen rückgängig zu machen. 

Angst vor Zuständen wie in Tschetschenien

Die genauen Hintergründe der Vereinbarung über die neue Grenze und den Landtausch sind unklar. Es gibt Spekulationen über Ölvorkommen, die sich der tschetschenische Anführer Ramsan Kadyrow angeblich sichern möchte. Andere Beobachter wie Ekaterina Sokirjanskaja, Leiterin des Zentrums für Konfliktprävention in St. Petersburg, vermuten, der ambitionierte Kadyrow möchte seinen Machtbereich auf die Nachbarrepublik ausweiten.

Die Empörung der Inguschen erklärt die Expertin unter anderem mit den Ängsten eines Volkes, dass seine ohnehin kleine Heimat noch kleiner werden könne. Inguschetien hat nur knapp eine halbe Million Einwohner und ist die kleinste Teilrepublik Russlands, etwa anderthalbmal so groß wie das Saarland. Inguschen seien besonders sensibel, wenn es um ihr Land geht, so Sokirjanskaja.

Infografik Karte Grenzverlauf Inguschetien Tschetschenien DE

Doch es gibt auch andere Gründe für den Protest. In staatlichen russischen Medien wird die aktuelle Krise in Inguschetien entweder gar nicht oder nur am Rande erwähnt. Um die gefühlte mediale Blockade zu durchbrechen, sind einige Aktivisten aus Inguschetien nach Moskau gereist, um beim Kreml-kritischen TV-Sender "Doschd" (Regen) eine Art Pressekonferenz zu geben und die Meinung der Protestler einem breiteren Publikum in Russland zugänglich zu machen.

Ihre Botschaft: Inguschetien wolle keine Zustände wie in Kadyrows Tschetschenien. "Bei allen Unzulänglichkeiten Jewkurows gibt es bei uns in der Republik Meinungsfreiheit", sagt Magomed Metschalo, der an der Grenze zwischen Inguschetien und Tschetschenien lebt und befürchtet, sein Dorf könne irgendwann zu Tschetschenien gehören. "Ich kann auf Facebook schreiben, was ich denke und am Morgen danach lebend aufwachen. In Tschetschenien wäre das unmöglich." Kadyrow hat den Ruf, seine Republik wie ein mittelalterlicher Fürst zu regieren: Eine Opposition gibt es nicht, Menschenrechtler wurden vertrieben.

Erinnerungen an den Zerfall der UdSSR

Manche Beobachter vergleichen die aktuelle Lage in Inguschetien mit ethnischen Konflikten, die den Zerfall der Sowjetunion begleiteten. Auch Inguschetien führte 1992 einen kurzen Krieg mit der Teilrepublik Nordossetien, bei dem viele Menschen starben. "Die sowjetischen Anführer hatten sich damals der Vorstellung verweigert, dass das Volk einen Aufstand beginnen könnte", sagt der Politik-Experte Iwan Preobraschenskij. Zu Unrecht: "Am Ende haben ethnische Konflikte den Zerfall der UdSSR beschleunigt."

Noch scheint Russland weit von einem Zerfall entfernt. Doch die Mächtigen in Moskau beobachtet die Lage in Inguschetien sehr genau, ohne sich jedoch direkt einzumischen. Eine Lösung des Konflikts ist noch nicht in Sicht. Das Verfassungsgericht Inguschetiens beschloss, die Frage der Grenze müsse durch ein Referendum entschieden werden. Jetzt ist die Führung der Teilrepublik am Zug - und Russland.

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