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Politik

Putins Kriegsgründe im Faktencheck

25. Februar 2022

Während seine Truppen die Ukraine angreifen, versucht Wladimir Putin die Invasion zu begründen: Russland müsse sich "verteidigen", einen "Genozid" stoppen und die Ukraine "entnazifizieren". Vieles davon ist falsch.

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Paris Normandie Treffen | Putin Zelenskyy
Die Staatschefs Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj bei einem Treffen Ende 2019Bild: Mikhail Metzel/TASS/dpa/picture alliance

Russland macht Ernst: Nach Wochen der Zuspitzung im Konflikt mit der Ukraine sind russische Truppen in die Ukraine einmarschiert und greifen zahlreiche Ziele im ganzen Land an. Kurz vor dem Angriff wendete sich Präsident Wladimir Putin mit einer TV-Ansprache an sein Volk und nannte seine Gründe für den Angriff - der in seinen Augen ein Akt der Verteidigung ist. Wir haben einige zentrale Begründungen Putins für die Invasion überprüft.

Rückten NATO-Truppen an Russlands Grenze vor?

Behauptung: Putin spricht von der "Ausdehnung des NATO-Blocks nach Osten, die Annäherung seiner militärischen Infrastruktur an die Grenze Russlands". Die NATO habe sich "immer weiter ausgedehnt. Die Kriegsmaschinerie ist in Bewegung, und, ich wiederhole, sie nähert sich unseren Grenzen."

DW Faktencheck: Irreführend.

Richtig an dieser Aussage ist: Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden 14 osteuropäische Staaten in die NATO aufgenommen. Vier von ihnen grenzen an Russland. Auch der Ukraine wurde 2008 eine NATO-Beitrittsperspektive gegeben, allerdings liegt der NATO-Beitritt des Landes seither auf Eis. Und wie unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Moskau Mitte Februar betonte, steht dieser Schritt auf absehbare Zeit nicht auf der Tagesordnung.

Richtig ist auch: Die NATO hat in ihren osteuropäischen Mitgliedsstaaten logistische Vorbereitungen getroffen und auch Flugplätze vorbereitet für die schnelle Verstärkung von Truppen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Sie hat das nach 2014 getan, als Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland.

Infografik Karte Nato Osterweiterung in zwei Schritten: nach 1990 und nach 2014

Die NATO respektiert weiter die NATO-Russland-Grundakte von 1997. Die untersagt die zusätzliche dauerhafte Stationierung von substantiellen Kampftruppen in den NATO-Beitrittsstaaten. In Reaktion auf die Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen begann die NATO zwar 2016 damit, vier Bataillonskampfgruppen in den baltischen Staaten und Polen zu rotieren. Diese Kampfgruppen mit einer Stärke von insgesamt 5000 Soldaten sind allerdings viel zu klein, um eine realistische Bedrohung für Russland mit geschätzt 850.000 aktiven Soldaten zu sein.

Außerhalb des Nordatlantik-Bündnisses arbeiten einzelne NATO-Mitgliedsländer auch bilateral zusammen. Mit großem Misstrauen verfolgte Moskau die Stationierung von Raketenabwehrsystemen des Typs Aegis Ashore. In Rumänien ist sie bereits erfolgt; in Polen steht sie bevor. Diese Systeme sind ursprünglich für Kriegsschiffe entwickelt. Und sie können auch Marschflugkörper abschießen, die in kurzer Zeit Russland erreichen könnten, wie der ehemalige Bundeswehroberst Wolfgang Richter im DW-Interview erläutert.

Das wäre allerdings kein unlösbares Problem, so Richter, der inzwischen für den Berliner Think-Tank Stiftung Wissenschaft Politik (SWP) arbeitet: "Das könnte man über konkrete Verifikation lösen." Soll heißen: Russland könnte die Möglichkeit erhalten, zu überprüfen, dass in den Aegis Ashore Silos eben keine Marschflugkörper auf ihren Abschuss warten. Das Angebot aber in einen Dialog zur Rüstungskontrolle einzutreten, habe Moskau zurückgewiesen, sagt Richter: "Moskau hat stattdessen den Krieg gewählt und die Aussichten auf eine Verhandlungslösung zerstört."

Ukraine Konflikt | Russischer Militäreinsatz
Russische Verbände auf dem Vormarsch - die Gründe für den Krieg sind nicht plausibelBild: Stringer/REUTERS

Ist Russlands Angriff ein Verteidigungsfall im Sinne der UN-Charta?

Behauptung: "Man hat uns einfach keine andere Möglichkeit gelassen, Russland und unser Volk zu verteidigen, als die, zu der wir heute greifen müssen", so Putin. "Die Volksrepubliken des Donbass haben Russland um Hilfe gebeten. In diesem Zusammenhang habe ich gemäß Kapitel 7 Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (…) die Entscheidung getroffen, eine Sonder-Militäroperation durchzuführen."

DW Faktencheck: Falsch.

Weder stimmt es, dass Russland sich gegen die Ukraine "verteidigen" muss, noch kann sich Putin dabei auf die Charta der Vereinten Nationen beziehen. Die Behauptung reiht sich ein in eine Serie von Vorwürfen Putins, die Ukraine führe offensive Militäroperationen durch und bereite gar einen Krieg gegen Russland vor. Kurz nachdemRussland die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkannt hatte, baten diese um Hilfe und Putin entsendete - in seinen Worten - "Friedenstruppen" in die Separatistengebiete. De facto ist dies jedoch die Fortsetzung einer schleichenden Besatzung, die 2014 begann. Russland blieb bislang jeden Beweis schuldig, wonach die Ukraine Russland angegriffen habe, und es gibt auch keine unabhängigen Informationen dazu. In den seit Jahren umkämpften Separatistengebieten im Osten der Ukraine kam es zudem zu False-Flag-Aktionen, also fingierten Angriffen, die Blogger als Inszenierung entlarvten (Anmerkung: Achtung! Verstörende Bilder im Blogbeitrag).

"Das Recht auf Selbstverteidigung, setzt einen Angriff der Gegenseite voraus. Das ist im Falle der Ukraine überhaupt nicht zu erkennen", sagt Pia Fuhrhop, Forscherin am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit, im DW-Interview. Sie nennt die Argumentation Putins "perfide". Denn: "Die Ukraine hat ganz im Gegenteil in den letzten Wochen alles getan, um Russland eben keinen Vorwand zu bieten, eine solches Selbstverteidigungsrecht auszurufen." 

Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die seit Jahren den Konflikt in der Ukraine mit einer Sondermission beobachtet, widerspricht der Darstellung Putins klar, die russische Invasion sei durch Artikel 51 der UN-Charta gedeckt. Der OSZE-Vorsitzende und polnische Außenminister Zbigniew Rau verurteilte die russische Invasion als "fundamentalen Bruch der UN-Charta". Den Angriff mit Artikel 51 zu begründen sei "kläglich und beschämend".

UN-Generalsekretär António Guterres erklärte vor Journalisten: "Dieser Krieg macht keinen Sinn. Er verletzt die Prinzipien der Charta". In Artikel 51 der UN-Charta wird den UN-Mitgliedsstaaten für den Fall eines bewaffneten Angriffs das Recht auf "individuelle oder kollektive Selbstverteidigung“ garantiert. Dieser Fall liege mit Blick auf Russland aber nicht vor, urteilt Marcelo Kohen, Professor für Völkerrecht am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf. "Die Argumentation Putins ist aus mehreren Gründen haltlos", so Kohen im DW-Gespräch. Erstens handle es sich bei den beiden abtrünnigen Gebieten nicht um Staaten im Sinne des internationalen Rechts. Zweitens handelte die Ukraine bis zur Invasion "nicht gewaltsam" gegen die beiden Gebiete. "Und drittens ist der massive Einsatz von Gewalt gegen Militäreinrichtungen in der ganzen Ukraine unnötig und unverhältnismäßig."

Ohne jeden Beweis für einen bewaffneten Angriff durch die Ukraine bleibt das russische Handeln faktisch ein Angriffskrieg ohne jegliche Rechtfertigung durch Artikel 51.

Gab es einen "Genozid" in der Ukraine?

Behauptung: Das Ziel der von Putin sogenannten "Sonder-Militäroperation" sei "der Schutz der Menschen, die seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt sind."

DW Faktencheck: Falsch.

Der Begriff "Genozid" ist durch die UN-Völkermordkonvention aus dem Jahr 1948 als ein "Verbrechen der vorsätzlichen, gänzlichen oder teilweisen Auslöschung einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe" definiert. Berichte von derartigen gezielten Massentötungen von Zivilisten in der Ukraine gibt es nicht, obwohl alle zivilen Opfer des Konfliktes von internationalen Beobachtern seit 2014 penibel dokumentiert werden. Die regelmäßigen Berichte der OSZE-Beobachtermission, die seit 2014 auf beiden Seiten der "Kontaktlinie" in der Ostukraine - auch mit Zustimmung Russlands - unterwegs ist, geben keinerlei Anhaltspunkte für einen systematischen Mord an der Zivilbevölkerung. Zivile Opfer des Konfliktes sind den Beobachtern zufolge auf die Kampfhandlungen oder deren Folgen zurückzuführen. Insgesamt sind den Angaben des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte aus dem Jahr 2021 zufolge circa 3000 Zivilisten im Kriegsgebiet in der Ostukraine ums Leben gekommen.

Die OSZE-Beobachtermission hält alle Toten und Verletzten in ihren täglichen Berichten fest. Ein Großteil der getöteten Zivilisten kam in der ersten Phase des Konfliktes zwischen 2014 und 2015 ums Leben. Seit 2016 nahm die Zahl der Opfer kontinuierlich ab. Der letzte verfügbare zusammenfassende Bericht der Beobachtungsmission aus dem Jahr 2020 hielt im Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis Mitte September 2020 161 Tote unter Zivilisten fest - mit ähnlich vielen Opfern auf beiden Seiten. Die überwiegende Todesursache war Artilleriebeschuss, gefolgt von Explosionen von Landminen und Munition. "Die meisten Opfer - 81 Tote und 231 Verletzte - verursachten Minen, nicht explodierte Munition und andere explosive Materialien. Zivilisten kamen ums Leben oder wurden unter unterschiedlichsten Umständen verletzt, unter anderem bei Feldarbeiten, beim Angeln oder während eines Spaziergangs", heißt es im Bericht der OSZE-Beobachtungsmission vom September 2020. Aus unabhängigen Quellen - von der OSZE und der UNO - gibt es keine Hinweise auf einen vermeintlichen "Genozid". Pia Fuhrhop von der Stiftung Wissenschaft und Politik nennt den Genozid-Verwurf Putins daher "völlig haltlos". Sie glaubt, dass es dem russischen Präsidenten gar nicht auf die Fakten ankommt: "Es gibt im autoritären System, das Russland heute ist, nicht die Möglichkeit für kritische Medien dies irgendwie nachzuprüfen. Insofern reicht für ihn eine Kriegs-Begründung ohne faktische Unterlegung", so Fuhrhop.

Ukraine Kiew Kriegshandlungen Russland
Ukrainer suchten am Donnerstag eine U-Bahn-Station auf, um sich vor Angriffen zu schützen - die Gründe für den Krieg sind für viele Ukrainer nicht glaubwürdigBild: VIACHESLAV RATYNSKYI/REUTERS

Muss die Ukraine "entnazifiziert" werden?

Behauptung: Um die angeblichen Misshandlungen und den angeblichen "Genozid" zu stoppen, müsse Russland sich "um die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine bemühen".

DW Faktencheck: Falsch.

Putins Aussage ist ein Propaganda-Narrativ, das er seit längerer Zeit wiederholt, welches aber jeder Grundlage entbehrt. Putin nutzt für seine Ukraine-Pläne mit der Entnazifizierung einen historischen Begriff, der auf die Politik der alliierten Siegermächte für Nazi-Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verweist. Sie wollten das Land von nationalsozialistischen Einflüssen befreien und entsprechend belastete Personen aus ihren Ämtern entfernen. Der Vergleich zur Ukraine ist jedoch falsch, sagt Andreas Umland der DW: "Dieses Gerede über Nazismus in der Ukraine ist völlig fehl am Platz". Umland ist Analyst am Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS). "Der Präsident der Ukraine ist ein russischsprachiger Jude, der mit einem Riesenergebnis die letzten Präsidentschaftswahlen gegen einen nicht-jüdischen ukrainischen Kandidaten gewonnen hat." 

 

Zwar gebe es in der Ukraine auch rechtsextreme Gruppierungen, so Umland, diese seien aber im Vergleich zu vielen europäischen Ländern relativ schwach. "Wir hatten eine Einheitsfront aller rechtsradikalen Parteien bei den letzten Parlamentswahlen 2019 und da hat diese Einheitsfront 2,15 Prozent bekommen." 

"Eine perfide Unterstellung", urteilt auch Ulrich Schmid über Putins Aussage, die Ukraine "entnazifizieren" zu müssen. Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Schweizer Universität St. Gallen und forscht zu Nationalismus in Osteuropa. Zwar habe es auch einzelne rechtsextreme Gruppierungen bei den Euromaidan-Protesten 2013/2014 gegeben. Heute aber spielten sie eine untergeordnete Rolle, sagte Schmid der DW: "Es gibt sie, aber in Russland selbst gibt es mindestens ebenso viele rechtsextreme Gruppierungen wie in der Ukraine."

Kritisiert wurden in der Vergangenheit rechte ukrainische Kampfverbände, die gegen die Separatisten im Osten der Ukraine kämpfen wie etwa das Regiment Asow. Dieses sei zwar von einer rechtsextremen Gruppierung gegründet, im Herbst 2014 aber in die Truppen des Innenministeriums, die Nationalgarde, eingegliedert worden, sagt Andreas Umland. Danach sei eine Trennung von Bewegung und Regiment erfolgt, das zwar noch entsprechende Symbole verwende, aber nicht mehr dem Rechtsextremismus zuzuordnen sei. Bei Ausbildungskursen für Militärs seien hin und wieder rechtsextreme Soldaten aufgefallen, so Umland, aber: "Das ist dann aufgedeckt und skandalisiert worden."

Unter dem Strich gibt es in der Ukraine wie in vielen anderen Ländern kleinere rechtsextreme Gruppen. Diese spielen aber nach Einschätzung von Experten gesellschaftlich eine absolute Nebenrolle. Ein Grund für eine "Entnazifizierung" liegt demnach nicht vor.