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Röhren, Rohre und kein Ende

18. Dezember 2012

Ist es Traum oder Albtraum, über 40 Jahre eine Arbeitsstelle zu haben? Ohne Karriere und Spitzengehalt? Oder wenn ein Aufstieg mit radikalen Umbrüchen der Arbeitswelt einhergeht? Fünf Porträts. Heute: Hildegard Pützer

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Angestellte, close-up in einer Werkshalle. (Copyright: Dieter Seitz)
Bild: Dieter Seitz

Mitten im Nationalpark Eifel, nicht weit von der belgischen Grenze, liegt der kleine Ort Hellenthal. Dort schlängelt sich das Flüsschen Olef durch eine üppige Mittelgebirgslandschaft, wo im Frühjahr Millionen von Wildnarzissen blühen und im Winter Skibegeisterte durch den Schnee toben: Ein Ort, an dem Großstadtmenschen gerne ihre Wochenenden verbringen. Hier arbeitet Hildegard Pützer. Wenn sie morgens früh kurz vor sieben ihre Arbeitsstelle betritt, fällt ihr Blick auf eine moderne Produktionshalle, die sich direkt an einen felsigen Abhang schmiegt, und auf ein historisches Ziegelsteingebäude, das zu ihrer Firma gehört: Seit über 180 Jahren existiert die Firma Schoeller, die sich auf die Fertigung von Rohren spezialisiert hat. Frau Pützer hat fast ein Viertel dieser Zeit miterlebt - und kennt die Produktpalette und die exakten Maße auswendig, "Von 0,8 bis 114 Millimeter im Außendurchmesser", das könnte sie nachts im Schlaf aufsagen. Das Angebot reicht von feinsten Injektionsnadeln bis zu Anwendungen in Kraftwerken.

80 Mark Weihnachtsgeld

Gleich nach der Handelsschule hat Hildegard Pützer hier begonnen, mit einer Lehre zur Industriekauffrau. 16 Jahre jung war sie damals. Dass die Firma sie sofort übernahm, war eine der wichtigsten Weichenstellungen ihres Lebens. Sie brauchte nicht wegzuziehen von zu Hause und der geliebten Eifel: "Ich hätte alles gemacht, ich wäre sogar Maschinenschlosser geworden, um hier bleiben zu können".

Und das, obwohl die Verdienstmöglichkeiten in der Gegend nicht rosig waren: "Mein erstes Weihnachtsgeld waren 80 Mark", erinnert sie sich. Das wären heute rund 40 Euro, "aber damals fühlte ich mich wie die reichste Frau der Welt! Ich bin eine ganze Woche lang mit diesem Geld im Portemonnaie herumgelaufen, weil ich so stolz war, eigenes Geld zu besitzen!" Bekannte, die sich eine Arbeitsstelle in größeren Städten gesucht hatten, verdienten damals deutlich mehr, sagt sie. "Aber wir waren auf eine gewisse Weise reicher, weil wir die Natur um uns herum hatten und nicht in der Stadt leben mussten."

40-jähriges Dienstjubiläum, Jubilarin close-up vor einem Schild 'Herzlichen Glückwunsch' (Copyright: Dieter Seitz)
Das Schild haben die Kollegen gemacht - das Unternehmen ist fast ein Stück FamilieBild: Dieter Seitz

Als Industriekauffrau zu arbeiten, war ihr nicht in die Wege gelegt. Eigentlich hatte sie einen ganz anderen Traum: Berufsschullehrerin wollte sie werden. "Den Absprung hab ich nicht mehr geschafft. Ich bin aber nicht unglücklich darüber." Nun lebt sie sozusagen mit den Rohren auf Du und Du – und kennt sich bestens aus: Schon während der Lehre hat sie alle Abteilungen des 900-Mitarbeiter-Betriebes durchlaufen, lernte die Fertigung kennen und wusste genau, wo gerade welches Rohr produziert wird. Zwanzig Jahre lang war sie dann in der Auftragsbearbeitung, verglich Bestellungen der Kunden mit dem Firmen-Angebot, gab den Betriebsauftrag in die Fertigung, die Auftragsbestätigung an den Kunden. Viel Schreibtischarbeit, bei der Detailkenntnis und Sorgfalt gefragt war. Außerdem hatte sie immer Auszubildende um sich: "Denen das Wissen weiterzugeben, hat mich aufgebaut" – ein kleines Stück des Traums vom Lehrberuf.

Von der Matrize zum Horror-Bildschirm

Doch dann veränderte sich die Arbeitswelt radikal: "Anfangs habe ich noch auf Karteikarten und Matrizen geschrieben", erzählt Frau Pützer. Das klingt für junge Menschen heute nach Steinzeit: Matrizen waren farbbeschichtete Papiere, die zur Vervielfältigung dienten: "Das war sehr mühselig. Aber als der der Computer kam, habe ich mich dagegen gewehrt. Ich war nicht mehr ganz jung und musste mich dann umstellen Ich wollte einfach nicht den ganzen Tag am Bildschirm sitzen. Das waren diese Horror-Bildschirme in Grün und Schwarz, die zitterten und waren unruhig!"

Da stellte sich zum ersten - und letzten - Mal die Frage, sich eine andere Stelle zu suchen. Doch andere Betriebe hatten den Computer schon längst eingeführt; bei einem Wechsel wäre alles nur schlimmer geworden. "Da habe ich mir gesagt, du setzt dich auf die Hinterbeine und machst einfach weiter. Und es ist mir auch gelungen, ich war dann eine der ersten, die hier im Büro am Bildschirm gearbeitet haben, und es macht mir Spaß".

Kribbeln am Telefon

Längst ist die Computer-Arbeit Routine. Doch nach zwanzig Jahren am gleichen Arbeitsplatz gab es dann eine große Umstellung für Hildegard Pützer: Im Verkauf fiel jemand aus. "Da hat mein Chef mich gefragt, hast du Lust, dich zu verändern, und da hab ich erst nein gesagt". Die Zweifel waren groß: Kann ich das, bin ich dafür geschaffen? Aber der Chef ließ nicht locker, Frau Pützer musste zugeben, dass sie alle Qualifikationen hatte. Etwas Sorge hatte sie anfangs trotzdem, der direkte Kundenkontakt war ihr fremd, das viele Reden am Telefon: "Im Nachhinein muss ich aber sagen, es macht mir sehr viel Freude. Wenn das Telefon klingelt, weiß ich nicht, was passiert jetzt? Schimpft jemand, dass wir die Lieferzeiten überzogen haben oder bedankt er sich freundlich fürs Angebot? Da muss man sich immer wieder umstellen. Und es ist auch ein bisschen Kribbeln dabei."

Aus Hellenthal nach Nagasaki

Richtig aufregend wurde es einmal, als lauter Rohre für ein Kreuzfahrtschiff bestellt wurden, das in Nagasaki gebaut werden sollte: 18 Container voller Material, die aus Hellenthal einmal um die halbe Welt gehen sollten, optimal beladen, mit maximaler Auslastung. "Da musste ich erst mal theoretisch berechnen: Wie viel kann ich in jeden Container packen? Ich wusste nicht: Klappt das, klappt das nicht? Überschreiten wir das Gewicht?" Klar, dass sie beim Verladen persönlich dabei war. "Als der letzte Container hier rausging, habe ich tief durchgeatmet und gesagt, das hast du geschafft!" Doch das Abenteuer war damit nicht zu Ende: Eine Weile später sah sie im Fernsehen, dass das beinahe fertige Schiff auf der Werft in Nagasaki ausgebrannt war. "Am nächsten Morgen habe ich sofort geguckt, ob wir noch die entsprechenden Rohre haben und auf die Schnelle nachliefern können." Tatsächlich rief der Kunde ein paar Tage später an – und traf auf eine bestens präparierte Ansprechpartnerin.

Hildegard Pützer und ein Kollege vor einem Stapel mit Röhren in der Werkshalle (Copyright: Dieter Seitz)
Blickt zuversichtilich in die Zukunft: Hildegard PützerBild: Dieter Seitz

Ausdauer trotz Arthrose

Doch so aufregend ist die Arbeit im Verkauf selten. Und sie besteht aus viel Sitzen am Schreibtisch. Gesund ist das nicht, schon gar nicht vierzig Jahre lang. Hildegard Pützer hat Probleme mit dem Rücken, leidet unter Arthrose. Darüber hinaus hat sie eine pflegebedürftige Mutter, mit der sie in einem Haushalt lebt. Da könnte leicht man auch mal die Nase voll haben von der Arbeit, alles hinschmeißen wollen. "Ich bin ein Typ, der mit Ausdauer arbeitet. Auch wenn es zig Tage hintereinander der gleiche Trott ist, ich steh den letzten Tag durch wie den ersten. Dass ich sage, ich hab keinen Bock, das kenn ich nicht von mir".

Dabei hilft, dass Kollegen und Betriebsleitung Rücksicht nehmen auf ihre Situation: Zum Beispiel wenn sie wegen ihrer Schmerzen mal aufsteht, statt permanent am Schreibtisch zu sitzen: "Da sagt keiner was, auch unser Chef nicht." Vor allem aber ist ihre Arbeitszeit jetzt auf sie zugeschnitten: Sie arbeitet in Teilzeit, morgens und nachmittags je drei Stunden. "Es kommt meinem Rücken sehr entgegen, dass ich nicht neun Stunden am Tag sitze – und außerdem habe ich die Zeit für meine Mutter. Das haben wir im Betrieb ein halbes Jahr lang so ausprobiert, und man ist mir da sehr entgegengekommen."

Luftballons zum Jubiläum

Ob sie es woanders auch vierzig Jahre durchgehalten hätte? Vorstellen kann sie es sich nicht. Nicht nur, weil ihr Herz so an der Eifel hängt. "Mein Chef hat mir erzählt, dass in vielen Betrieben Leute auf einem Flur arbeiten, die sich gerade mal vom Namen kennen. Bei uns kennt jeder jeden, jeder weiß vom anderen, was er treibt, wenn er nach Hause geht. Hat einer Probleme, leiden wir alle mit, sind Freuden da, freuen wir uns alle zusammen." Und so haben natürlich auch alle Kollegen das 40jährige Dienstjubiläum mit ihr gefeiert: "Mein Büro war wunderbar geschmückt, alles voller Luftschlangen und Luftballons, ich brauchte nichts zu arbeiten an dem Tag, mein Telefon war umgestellt, so dass Andere die Arbeit gemacht haben. Ich war einfach überwältigt von dem Gefühl!"

Autorin: Aya Bach
Redaktion: Ramón García-Ziemsen