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"Rübergeschwappt aus DDR-Zeiten" - die Volkssolidarität

3. Oktober 2010

Die Volkssolidarität war die wichtigste Wohlfahrtsorganisation der untergegangenen DDR. Es gibt sie gibt es immer noch. Kein anderer Verband in Ostdeutschland betreut mehr sozial Bedürftige.

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Ein Suppenküchen-Kunde isst bei der Volksolidarität in Leuben zusammen mit Senioren (Foto: dpa)
Suppenküche der VolksolidaritätBild: picture-alliance/dpa

"Das hier ist ein Stützpunkt der Volkssolidarität", sagt Harry. Stützpunkt? "Das ist ein Club. Wie ein Golfclub. Da zahle ich auch Mitgliedsbeitrag und kann dann alles in Anspruch nehmen. Und hier besuche ich dann die jeweiligen Veranstaltungen, die mich interessieren." Harry ist klein, drahtig und hat die grauen Haare zurückgekämmt. Der 79-Jährige nimmt im Stadtteilzentrum der Volkssolidarität in Berlin-Marzahn sein Mittagessen ein. "Haste jut gekocht", berlinert er der Mitarbeiterin zu, obwohl natürlich alle wissen, dass das Essen aus einer Großküche kommt. "Einen kleinen Witz muss man schon mal machen."

Stadtteil der Wendeverlierer

Ein älterer Mann nimmt ein Paket mit Essen von einem Lieferanten der Volkssolidarität entgegen (Foto: dpa)
Essenslieferung in OderbergBild: picture-alliance/ dpa

Marzahn ist eine Plattenbausiedlung am östlichen Rand Berlins, gebaut in den achtziger Jahren. Zur Wendezeit lag das Durchschnittsalter hier bei knapp über 30 Jahren, es war eine Wohngegend für junge Familien, die hier besseren Wohnraum vorfanden als in der Innenstadt. Heute gilt Marzahn als Stadtteil der Wendeverlierer; in den neunziger Jahren machte es von sich Reden, weil hier Neonazi-Gruppen ihr Unwesen trieben. Dennoch, eine verwahrloste Vorstadt ist Marzahn nicht. Die Plattenbauten wurden saniert, die Grünanlagen sind gepflegt, an den Balkonen hängen Blumenkästen. Die günstigen Mieten ziehen neue Bewohner an, die durch die steigenden Preise aus der Innenstadt vertrieben werden. Der Migrationsanteil wird auf zehn Prozent geschätzt, vor allem Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und Vietnamesen, die als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen waren.

Ein Kinderchor singt 1973 in einem Veteranenklub der Volkssolidarität in Neubrandenburg (Foto: dpa)
Ein Kinderchor singt 1973 in einem Veteranenklub der Volkssolidarität in NeubrandenburgBild: picture-alliance/ZB

Renate Schilling ist die Leiterin des Stadtteilzentrums, das in einer ehemaligen Sparkasse-Filiale untergebracht ist. "Die Möbel stammen alle noch aus Sparkassenzeiten. Da können wir eine Menge verstauen", sagt sie. Sogar der Tresor ist noch da. Nur dass die Trennwände der Büros offen sind, gefällt ihr nicht. "Da muss man bei Beratungen ein bisschen aufpassen." Das Stadtteilzentrum Marzahn bietet neben dem Mittagstisch für Rentner vor allem Sprechstunden zu sozialen Fragen an, Anwälte beraten zum Familienrecht, außerdem treffen sich in den Räumen Mal- und Handarbeitsgruppen, es gibt Englischkurse, Vorträge und - das Highlight - einen monatlichen Tanzabend. "Für die ältere Jugend", wie sich Harry ausdrückt. Beim letzten Mal habe sogar eine Dame barfuß auf dem Tisch getanzt. "So lange wie ich noch lebe, werde ich da noch hingehen."

"Wir machen weiter"

Die Volkssolidarität wurde nach dem Krieg als Hilfswerk für die hungernde Bevölkerung in der sowjetisch besetzten Zone gegründet. Später wurde sie vor allem in der Altenarbeit tätig. Zu DDR-Zeiten war sie eine Massenorganisation, die unter Anleitung der Staatspartei SED stand. Dann brach 1989 der SED-Staat zusammen. "Der Betreuungsbedarf änderte sich ja nicht mit der Wende", sagt Ingolf Hähnel vom Vorstand des Berliner Landesverbands. Stattdessen gab es neuen: "Die Leute wurden von Versicherungen und bei arbeitsrechtlichen Fragen über den Tisch gezogen. Das kann sich ja ein Mensch nicht vorstellen, der diesen Umbruch nicht miterlebt hat. Und da entstand der Wunsch: Wir machen weiter."

Postkarte der Volkssolidarität aus der Zeit um 1948 in der Sowjetischen Besatzungszone mit der Parole "Sorgen verhindern, Leiden lindern". Illustriert wird eine Helferin am Krankenbett einer Frau. (Foto: dpa)
Postkarte der aus der Zeit um 1948 in der Sowjetischen BesatzungszoneBild: picture-alliance/ZB

Nach der Wiedervereinigung wandelte sich die Volkssolidarität zu einer Wohlfahrtsorganisation, ähnlich wie die katholische Caritas, die evangelische Diakonie oder die Arbeiterwohlfahrt. Sie ist Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem wichtigsten Zusammenschluss sozialer Organisationen in Deutschland. In den ostdeutschen Bundesländern ist die Volkssolidarität nach wie vor die wichtigste Anlaufstelle in sozialen Fragen. "Ein wichtiges Thema ist Rente. Die Rentner in den neuen Bundesländern erhalten weiterhin 12 Prozent weniger als im Westen", erklärt Hähnel. "Und das fängt an, sich sehr stark auszuwirken. Wir bekommen jetzt zunehmend mehr Rentner, die keine einheitliche Erwerbsbiografie mehr haben." Das bedeutet: Weniger Geld, weil durch Arbeitslosigkeit oder Niedriglohnjobs Anrechnungszeiten fehlen. Rentner sind nach wie vor die Haupt-Zielgruppe der Volkssolidarität. Daneben unterhält sie Kindergärten und Jugendclubs.

Der Mitgliedsbeitrag beträgt heute zwei Euro im Monat. Der Rentner Harry jedenfalls, der seit DDR-Zeiten Mitglied ist, ist zufrieden mit dem, was er in seinem Club bekommt: "Volkssolidarität ist denn so rübergeschwappt aus DDR-Zeiten. Das ist ja noch so 'ne alte Institution und die hat sich gut erhalten."

Autor: Mathias Bölinger

Redaktion: Dеnnis Stutе