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Radioaktivität: Darum sind Wildschweine verstrahlt

31. August 2023

Lange Zeit dachte man, der Reaktorunfall in Tschernobyl sei der Grund für die verstrahlten Wildschweine in Deutschland. Laut einer neuen Studie steckt die Radioaktivität aber schon länger in den Schweinen als gedacht.

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Deutschland | Wildschwein im Nationalparkzentrum Lusen
Kurz nach dem Unfall in Tschernobyl war das Fleisch vieler Wildtiere stark belastet. Doch nur Wildschweine blieben hoch verstrahlt.Bild: Lino Mirgeler/dpa/picture alliance

Nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 verteilte sich radioaktives Material durch Wind und Wetter über ganz Zentraleuropa und ging auch über Deutschland nieder. Es sammelte sich in Böden, gelangte in Pflanzen und Pilze. Auch Wildtiere wie Rehe und Wildschweine waren belastet. Vom Verzehr von Wildfleisch wurde daher dringend abgeraten.

Mit der Zeit nahm die Belastung des Fleisches von Rehen und Hirschen messbar ab. Einzig die Wildschweine blieben hochverstrahlt. Forschende nennen es das "Wildschwein-Paradoxon" - ein Rätsel, das nun gelöst sein könnte.

Ein Forscherteam um den Radioökologen Georg Steinhauser von der TU Wien kommt zu dem Schluss, dass Tschernobyl nicht der Hauptgrund für die seit Jahren hohe Belastung der Wildschweine mit dem radioaktiven Isotop Cäsium-137 sein kann. 

Stattdessen machen die Forschenden die oberirdischen Atombombentests der 60er Jahre für die kontinuierlich hohe Strahlenbelastung der Tiere verantwortlich. Ihre aktuelle Studie dazu veröffentlichte Steinhauers Team im Fachmagazin "Environmental Science and Technology". 

Verhältnis von Cäsium-Isotopen spricht für Atomtests

Um die Herkunft des radioaktiven Materials im Wildschweinefleisch ermitteln zu können, schauten sich die Forschenden das Mischverhältnis der Isotope Cäsium-137 und Cäsium-135 an. Dieses Verhältnis unterscheidet sich je nach radioaktiver Quelle. Es war bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl anders als bei den Atomwaffentests der 1960er-Jahre, heißt es in einer Pressemitteilung der TU Wien

Dabei zeigte sich: Ein Großteil des Cäsiums im Wildschweinfleisch ist auf Atomwaffentests zurückzuführen – bei manchen Proben bis zu 68%. 

Auf die Frage, weshalb Cäsium auch viele Jahrzehnte nach den Atomtests das Wildschweinfleisch immer noch derart stark belastet, dass es alle Grenzwerte sprengt, haben die Forschenden vielleicht auch eine Antwort: Es könnte am Hirschtrüffel liegen.

Hirschtrüffel voller Cäsium

Hirschtrüffel sind Pilze, die unterhalb der Bodenoberfläche wachsen und in denen sich Cäsium anreichert. Dort zerfällt es wesentlich langsamer als in anderen Organismen. Zufällig fressen Wildschweine Hirschtrüffel besonders gerne.

Hinzu kommt, dass sich das radioaktive Cäsium erst mit großer zeitlicher Verzögerung in den Pilzen anreichert.

"Das Cäsium wandert sehr langsam durch den Boden nach unten, manchmal nur rund einen Millimeter pro Jahr", sagt Georg Steinhauser in der Pressemitteilung der TU Wien. "Die Hirschtrüffel, die in 20 bis 40 Zentimetern Tiefe zu finden sind,  nehmen somit erst heute das Cäsium auf, das in Tschernobyl freigesetzt wurde. Das Cäsium alter Atomwaffentests hingegen ist dort schon lange angekommen."

Pilze als Bodenreiniger

Die langsame Wanderung des Cäsiums durch den Boden und die Anreicherung in den Hirschtrüffeln gleicht den Effekt des Zerfalls des Cäsiums aus. Das könnte eine Erklärung für die seit Jahrzehnten konstant hohe radioaktive Belastung der Wildschweine sein, meinen die Forschenden.

Aus diesem Grund rechnen Steinhauer und sein Team auch nicht damit, dass die Wildschweine in absehbarer Zeit weniger verstrahlt sein werden. Das nach Tschernobyl freigesetzte Cäsium kommt jetzt erst in den Hirschtrüffeln an.

DW Mitarbeiterportrait | Julia Vergin
Julia Vergin Teamleiterin in der Wissenschaftsredaktion mit besonderem Interesse für Psychologie und Gesundheit.