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Literatur

R. M. Rilke: "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge"

Aygül Cizmecioglu spe
6. Oktober 2018

Ein tagebuchartiger Text ohne Handlung, ohne Chronologie wird zum Wegbereiter des modernen Erzählens. Mit Rilkes einzigem Roman wird die Identitätskrise zum Gegenstand von Literatur. 

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Rainer Maria Rilke, deutscher Dichter
Bild: picture-alliance/dpa/Imagno/Austrian Archives

"So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier."

Kaum zu glauben, aber hier ist die Rede von Paris, der schillernden Kulturmetropole des Fin de Siècle. Doch in Rilkes Roman ist nichts von ihrem Glanz zu spüren. Vielmehr begegnet einem ein Moloch, ein steinernes Meer der Anonymität – laut, grau, abschreckend. Mittendrin ein junger Däne ohne Geld, Spross eines alten Adelsgeschlechts, der in Paris versucht, sich als Dichter zu finden.

Moloch des Grauens

R. M. Rilke: "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge"

Er hat dabei kaum ein Auge für die Schönheiten der Seine-Stadt mit ihren wunderbaren Parks und den imposanten Gebäuden. Vielmehr sitzt Malte Laurids Brigge einsam in seinem Kämmerchen, lässt die Geräusche der Straße passieren und fürchtet sich – vor dem Leben, vor den eigenen Träumen.

Takt des Fortschritts

Als Rainer Maria Rilke 1910 seinen einzigen, schon sechs Jahre zuvor in Rom begonnenen Roman vollendete, verarbeitete er darin Aufzeichnungen und Briefzitate seiner vielen und langen Paris-Aufenthalte seit 1902. Damals war er in die französische Hauptstadt gezogen, um eine Monografie über den Bildhauer Auguste Rodin zu verfassen. Inzwischen war der 35-Jährige berühmt für seine feingeschliffene Lyrik. Doch das Leben in der pulsierenden Metropole setzte dem empfindsamen Dichter aus Österreich zu. 

Diese Irritation, diese Überforderung reflektierte er literarisch in seinem Roman. Eine nachvollziehbare Handlung sucht man darin vergebens, ebenso einen klassischen Erzähler. Stattdessen gibt es eine lose Abfolge an Tagebucheinträgen, Prosagedichten und Beschreibungen. Ein assoziativer Mahlstrom, der genau jene Unsicherheit widerspiegelt, die Rilke empfand und die er in seine Romanfigur projizierte. Den Erzählrhythmus gibt die Stadt selbst vor. Der Text atmet den Takt des technischen Fortschritts – das Rattern der Straßenbahnen, die Autohupen, das stetige Dröhnen der Maschinen aus den Fabriken. 

Paris Straßenszene 1900
Paris um die JahrhundertwendeBild: Imago/Arkivi

Rilke wird zu einem Seismografen dieser Zeitenwende. Sein "Prosabuch", wie er den Roman selber nur nannte, reflektiert die Sehnsucht nach Verortung, nach Selbstvergewisserung in einer aus den Fugen geratenen Zeit. Mit "Malte Laurids Brigge" nimmt Rilke die Sprache des Expressionismus vorweg und schreibt den ersten Großstadtroman der deutschsprachigen Literatur. 


Rainer Maria Rilke: "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1910), Insel Verlag

Rainer Maria Rilke wurde 1875 in Prag geboren und starb 1926 im schweizerischen Sanatorium Val-Mont bei Montreux an Leukämie. Er hinterließ ein großes lyrisches Werk, darunter die "Duineser Elegien" (1923), Prosa, Sachtexte und Übersetzungen.