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Staudamm-Protest in Chile

28. Juli 2011

Der geplante Bau von fünf Staudämmen in Südchile hat zu landesweiten Demonstrationen geführt. Nicht nur aus Umweltgründen, sondern vor allem als Protest gegen das wirtschaftliche Erbe der Pinochet-Diktatur.

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Demonstration in der Regionalhauptstadt Coyhaique (Foto: Regionalzeitung eldivisadero.cl)
Gegen "soziale und ökologische Plünderung"Bild: eldivisadero.cl

Vom Hubschrauber aus wirkt die patagonische Provinz Aysen unberührt, intakt: Gewaltige Seen und Eisfelder, Urstromtäler, menschenleere Gebirge und unzugängliche Canyons, die zum Pazifik abfallen. Zwei von ihnen, die Täler der Flüsse Pasqua und Baker, sollen sich in regelrechte Energiekaskaden verwandeln und mit fünf gewaltigen Dämmen ein Viertel des heutigen chilenischen Strombedarfs decken.

Luftaufnahme von Aysen in Patagonien (Foto: DW/Thomas Nachtigall)
Zwei große Eisfelder machen Aysen zur wasserreichsten Region ChilesBild: DW/Nachtigall

Ökologische Bedenken weisen die Ingenieure der Firma "Hidroaysen" mit Verweis auf den vergleichweise geringen Flächenbedarf zurück: "Wir überschwemmen weniger als 6000 Hektar und erzeugen mehr als 2700 Megawatt. Dieses Verhältnis macht unser Projekt zum effizientesten Wasserkraftwerk der Welt."

Längste Stromtrasse der Welt

Sinn machen die Dämme in dem fragilen Ökosystem allerdings nur, wenn auch eine 2000 Kilometer lange Hochspannungstrasse gebaut wird, die den Strom aus Südchile in das Ballungszentrum Santiago und in die noch weiter nördlich gelegenen Kupferminen leitet. Es wäre die längste Leitung der Welt - quer durch Fjorde, Urwälder, Vulkanschluchten, Erdbebenregionen und Nationalparks.

Der Rio Baker ist der wasserreichste Strom Chiles (Foto: DW/Thomas Nachtigall)
Der Rio Baker ist der wasserreichste Strom ChilesBild: DW/Nachtigall

200 Millionen Dollar haben Geldgeber bereits in Public Relation und Planung gesteckt - obwohl eine Baugenehmigung noch aussteht. Daniel Fernandez, Vizedirektor von Hidroaysen, stellt im Schulterschluss mit Chiles Präsident Sebastian Pinera das Projekt als "praktisch alternativlos" dar. "Ich hoffe, wir wachsen jährlich um vier bis fünf Prozent. In spätestens 15 Jahren hat sich unser Energiebedarf verdoppelt."

Tatsächlich hat der "Tigerstaat" Lateinamerikas bislang keinen Versuch unternommen, Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch zu entkoppeln. Was der Markt an Wasser-, Gas- oder Kohlestrom produziert, wird von der Minenindustrie abgenommen - praktisch zu jedem Preis. Etliche Kraftwerks-Neubauten sind umstritten; darunter Kohleblöcke, die mit ihren Abgasen Tausende von Anwohnern direkt belasten.

Protest gegen Neoliberalismus

Doch nichts hat vergleichbaren Widerstand hervorgerufen, wie die Staudammkette im hintersten Winkel des Landes. Mehrere Zehntausend meist junge Chilenen zogen vor den Regierungspalast. Sie haben mittlerweile 70 Prozent der Bevölkerung hinter sich.

Die Menschen in der Region leben unter schwierigen Bedingungen (Foto: DW/Thomas Nachtigall)
Vierzehn Familien müssten für die fünf Stauseen umgesiedelt werdenBild: DW/Nachtigall

"Es ist auch eine Rebellion gegen den Neoliberalismus, der hier seit mehr als 30 Jahren herrscht. Viele Bürger wollen nicht einfach mehr Wachstum und Verschwendung, sondern auch Schutz der Umwelt, Brüderlichkeit, Glück. Aber niemand spricht davon", erklärt Patricion Rodriguez, Sprecher des Aktionsbündnisses "Patagonien ohne Dämme" den unerwarteten Zuspruch.

Erbe der Diktatur

Allein mit wachsendem Umweltbewusstsein ist die Wut nicht zu erklären. Sie richtet sich auch dagegen, dass mehr als 20 Jahre nach Ende der Diktatur wirtschaftlich noch immer die alten Spielregeln herrschen, die in der Verfassung des Pinochet-Diktaturs zementiert wurden.

"Von Anfang an war das Projekt mit dem Makel der Illegalität behaftet", meint Patricio Segura, einer der Dammgegner in der Provinzhauptstadt Coyhaique und berichtet, wie während der Pinochet-Diktatur die Wasserrechte im ganzen Land privatisiert wurden. Noch in den letzten Tagen des Regimes habe die Firma Endesa unter dubiosen Umständen die Rechte an den Flüssen Pasqua und Baker erhalten.

Neue und alte Wirtschaftseliten

Endesa gehört heute dem italienischen Energieriesen ENEL. Der teilt sich das Milliarden-Projekt "Hidroaysen" mit Colbun, einem Unternehmen der Familie Matte, die zu den reichsten und einflussreichsten Chiles zählt. Gemeinsam beherrschen Endesa und Colbun mehr als die Hälfte des nationalen Strommarktes. Solange der Staat auf jede Energiepolitik verzichte, seien ihre Profite garantiert, kritisiert Miguel Marquez, Energieexperte und Hochschullehrer in der chilenischen Hauptstadt.

Ein Plakat mit Strommasten vor Bergkulisse (Fotomontage: Patagonia sin represa)
Weite Wege bis zum VerbraucherBild: Patagonia sin represa

Dass im Andenland die Lichter ausgehen, hält er für ausgeschlossen. Allein durch höhere Effizienz ließe sich der Energiebedarf halbieren. Die Sonneneinstrahlung in der Atacama Wüste sei intensiver als sonst wo auf der Welt. Chile verfüge über Geothermie, Biomasse und 40.000 Kilometer Küstenlinie für Wind und Wellenkraft.

Starke Lobby gegen Erneuerbare Energien

Allerdings, so Marquez, käme eine dezentrale Stromversorgung kaum voran, weil sie nicht im Interesse der Wirtschaftseliten liege, die im Energiesektor mit Renditen von 15 Prozent und mehr rechneten. "Das Skandalöse ist, dass eine kleine Gruppe von Familien die Wirtschaft kontrolliert", sagt Marquez. 80 Prozent des Inlandsproduktes werde von etwa 100 Firmen erwirtschaftet. "Für mich ist das große Thema bei 'Hidroaysen' die wirtschaftliche und politische Machtkonzentration. Sie ist fatal, denn sie fördert die Ungleichheit in meinem Land und bedroht die Demokratie", meint Energieexperte Marquez.

Autor: Thomas Nachtigall
Redaktion: Wim Abbink