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Redefreiheit versus Ruhebedürfnis

Konstantin Klein, Washington D.C.4. August 2003

Haben die US-Bürger ein Grundrecht auf ein ungestörtes Abendessen? Um diese Frage geht es in letzter Konsequenz in einem Rechtsstreit, der von jedem Amerikaner mit Telefonanschluß gespannt verfolgt wird.

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Wir leben in einer zivilisierten Welt. Jedenfalls bilden wir uns das ein. Und in einer zivilisierten Welt gilt – unter anderem – das Grundrecht auf ein ungestörtes Abendessen. Daher wissen zivilisierte Menschen überall auf dieser Welt: Wenn während des Abendessens das Telefon klingelt, dann ist es entweder Tante Anna, deren Uhr mal wieder stehen geblieben ist – oder es ist der Doktor von Tante Anna mit einer schlechten Nachricht.

Wenn dagegen in einem amerikanischen Haushalt zur Essenszeit das Telefon klingelt, dann ist es fast immer eine Telefongesellschaft auf der Suche nach neuen Kunden, oder die Virginia State Police Association auf der Suche nicht etwa nach Verbrechern, sondern nach Spenden für den Pensionsfund der Vereinigung, oder es ist die Washington Post, die zwar eine intelligente Zeitung ist, aber zu dumm, um ihre Abonnenten von Nicht-Abonnenten zu unterscheiden.

Ruf nicht an!

Telemarketing ist der wohlklingende Name für eine Industrie, die sich herzlicher Unbeliebtheit in amerikanischen Haushalten erfreut. Leistungsstarke Computer telefonieren ellenlange Listen von Nummern ab, und wenn jemand antwortet, wird er blitzschnell mit einem Menschen verbunden, der einem einen neuen Telefonservice andrehen oder Spenden abknöpfen will und dabei eine erstaunliche Dreistigkeit an den Tag legt. Der zuständige Industrieverband Direct Marketing Association prahlt mit 70 Millionen derartiger Anrufe – pro Tag!

Nun wollen selbst im konsumfreudigen Amerika Verbraucher in Ruhe zu Abend essen. Und deshalb stieß eine Idee der Bush-Regierung selbst bei Bushgegnern auf begeisterte Zustimmung: die National Do-Not-Call-List (www.donotcall.gov). In diese Liste kann sich jeder eintragen, der keine Telemarketing-Anrufe mehr bekommen will. Und ab ersten Oktober kann jeder unerwünschte Marketing-Anruf mit bis zu 10.000,00 Dollar Strafe belegt werden. Nur einige Ausnahmen gibt es: politische Parteien dürfen beispielsweise auch weiterhin anrufen - denn wem verdanken wir dieses schicke Gesetz schließlich und endlich?

Volksabstimmung per Liste

In den ersten vier Wochen nach Eröffnung der Liste haben sich 27 Millionen Haushalte eintragen lassen – bis zum Oktober werden 60 Millionen Einträge erwartet – das ist jeder zweite US-Haushalt. Das ist den Telemarketern natürlich nicht recht. Sie behaupten, eine derartige Liste schränke ihre verfassungsmäßig garantierte Redefreiheit ein – und vergessen dabei, dass diese Redefreiheit nirgendwo mit einer Zuhörpflicht verbunden ist. Und um ganz sicher zu gehen, verklagen sie die Aufsichtsbehörde FTC auf Unterlassung – der Prozess ist in der Schwebe.

An dieser Idee muss ein amerikanischer Rechtsanwalt schuld sein. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Abendessenstörer auf ihrem Recht bestehen wollen, Leute gegen deren Willen anzurufen. Denn eins weiß doch jeder: Menschen, deren Essen gerade kalt wird, sind am Ende die besten Kunden. Oder auch nicht.