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Regierungsbildung in Belgien in Sicht

15. September 2011

Nach fünfzehn Monaten ohne Regierung: Ein Kompromiss beendet den Streit um den Wahlkreis, der Brüssel samt Umland umfasst – und bereitet den Weg für die Regierungsbildung. Doch die wirtschaftlichen Probleme häufen sich.

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Belgiens Parlament (Foto: dpa)
Erste Schritte zur Regierungsbildung in BelgienBild: picture alliance / dpa

In Belgien zeigt sich häufig schon am Schanktisch die sprachliche Teilung des Landes in ein niederländisch sprechendes Flandern und ein frankophones Wallonien: Wer in Brüssel ein Bier bestellt, tut dies auf Französisch oder Englisch. Wer es aber im Umkreis der Hauptstadt wagt, nicht auf Niederländisch nach einem Bier zu fragen, wird oft ignoriert: Denn Brüssels Umland gehört zu Flandern, einer Region, die nach Unabhängigkeit strebt. Umland und Brüssel sind zusammen im Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde zusammengefasst. Ein erbitterter Streit um die Reform des Wahlkreises, in dem frankophone Belgier Sonderrechte genießen, brachte die letzte Regierung unter dem Flamen Yves Leterme im April 2010 zum Sturz - und paralysierte fünfzehn Monate lang die Politik. In der Nacht zum Donnerstag (15.09.2011) aber zeichnete sich ein erster Durchbruch ab.

Noch am Mittwoch schien die politische Krise ausweglos: Der kommissarisch amtierende Leterme hatte verkündet, voraussichtlich bis Ende des Jahres zur Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu wechseln. Das löste hektische Verhandlungen aus. Der belgische König Albert II. brach seinen Sommerurlaub in Frankreich ab und beauftragte den frankophonen Sozialdemokraten Elio di Rupo, so schnell wie möglich einen Kompromiss zu erarbeiten.

Einigung nach durchwachter Nacht

Nach einem zehnstündigen Diskussionsmarathon, der weit in die Nacht reichte, einigten sich die Chefs von acht Parteien schließlich über die Grenzen von Wahlkreisen, wie di Rupo am Donnerstagmorgen in Brüssel bekanntgab. Damit sei eines der wichtigsten Hindernisse für die Regierungsbildung beseitigt worden. "Obwohl die Arbeit noch lange nicht beendet ist, bedeutet doch unsere heutige Einigung einen wichtigen Schritt vorwärts", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der Parteivorsitzenden. "Jetzt können wir mit den Koalitionsverhandlungen beginnen", sagte Alexandre De Croo, der Parteichef der Flämischen Liberalen. Damit rückt die Bildung einer Regierung also in greifbare Nähe. Wahrscheinlich sei allerdings, dass sich die Verhandlungen noch über Wochen hinziehen, meldet die Agentur Reuters.

Karte von Belgien (Grafik: DW)
Zweigeteiltes Belgien kämpft um RegierungBild: DW

Details des Kompromisses wurden offiziell nicht bekannt gegeben. Doch die Nachrichtenagentur dpa meldet aus dem Teilnehmerkreis die Beilegung des Streits um den Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde und die Spaltung desselben: Brüssel und das Umland würden nun voneinander getrennt. Französischsprachige Bürger, die in sechs flandrischen Gemeinden leben, erhalten demnach aber einen Sonderstatut und können somit weiterhin ihre Stimmen auf frankophonen Wahllisten abgeben.

An der Einigung waren fast alle im Parlament vertretenen Parteien beteiligt - außer den flämischen Nationalisten N-VA und den flämischen Rechtsradikalen Vlaams Belang. Die N-VA war aus den Wahlen im Juni 2010 als stärkste politische Kraft Belgiens hervorgegangen. Parteichef Bart de Wever hatte über Monate jeglichen Kompromiss blockiert - und hält noch immer stur an der Unabhängigkeit Flanderns fest, nach dem Motto: Autonomie auch um den Preis des politischen Chaos.

Wallonien gegen Flandern

Der nördlichen Region mit seinen 6,2 Millionen Einwohnern geht es wirtschaftlich besser als dem angeschlagenen Wallonien, im Süden des Landes. Dort leben 4,5 Millionen frankophone Belgier, die finanziell also von einem vereinten Belgien profitieren - und es deshalb unterstützen.

Bei allen politischen Problemen bereitet die Wirtschaft Belgiens so einigen Kopfschmerzen: Die Staatsverschuldung betrage mittlerweile fast 96 Prozent der Jahresproduktion, meldet die Nachrichtenagentur Reuters. Damit sei die Schuldenquote des Landes nur etwas niedriger als die von Griechenland oder Italien. Die Ratingagenturen Standard & Poors und Fitch hätten bereits angedroht, Belgiens Kreditwürdigkeit herabzusetzen. Solange Belgien jedoch keine funktionierende Regierung hat, können auch die dringenden wirtschaftlichen Probleme nicht in Angriff genommen werden. Bestellungen des beliebten belgischen Biers zu ignorieren - egal in welcher Sprache -, kann sich das Land derzeit kaum leisten.

Autorin: Naomi Conrad (afp, dpa, rtr)

Redaktion: Ursula Kissel