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"Regierungstruppen sind überbeschäftigt"

Hans Spross29. September 2015

Der Vormarsch der Taliban ins Zentrum von Kundus zeigt das Selbstbewusstsein der Widersacher der Kabuler Regierung. Die ist aber Teil des Problems, sagt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig.

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Rauch steigt aus dem Zentrum von Kundus auf (Foto: Picture alliance/ap)bei Kundus
Bild: picture alliance/AP Photo

Deutsche Welle: Wie beurteilen Sie die Einnahme oder teilweise Einnahme der Stadt Kundus? Bislang hatte man den Eindruck, in der Gegend um Kundus seit den letzten Angriffen der Taliban im Frühjahr habe eine Art Pattsituation geherrscht.

Thomas Ruttig: Es mag wie eine "Pattsituation" ausgesehen haben, aber das bedeutet eben, dass die Taliban hier und da dann doch vorrücken. Wenn sie sich im Stadtzentrum festsetzen würden, wäre das sicher eine neue Lage. Wie sich das in Kundus entwickelt, da wird man noch etwas abwarten müssen. Aber das Eindringen der Taliban ins Stadtzentrum zeigt auf jeden Fall, dass die Taliban erstens nach ihrem Führungswechsel nicht geschwächt worden sind, und zweitens, dass sie sehr selbstbewusst sind und dass Kundus eines ihrer zentralen Angriffsziele ist.

Wenn man von Kundus spricht, was muss man sich darunter genauer vorstellen? Und wie wirkt sich die Topografie auf das militärische Kräfteverhältnis und mögliche Szenarien aus?

Der Unterschied von Stadt und Land in Städten wie Kundus ist fließend, es gibt viele dörfliche Strukturen am Rand der Stadt, wo die Taliban schon seit Frühjahr eingesickert sind. Die Provinz Kundus besteht aus sieben Distrikten, einer davon ist die Stadt selbst mit umliegenden Dörfern. Von den sechs ländlichen Distrikten kontrollieren die Taliban zwei oder drei.

Da die Regierung ungern Distriktzentren aus der Hand gibt, wird immer mobilisiert, um letztere zurückzuerobern, und deshalb sollen dem Vernehmen nach nicht mehr viele Soldaten in der Stadt selbst verblieben sein, weil alle in den ländlichen Gebieten im Einsatz sind. Die Regierungstruppen sind ziemlich überdehnt, vor allem die Einheiten, die man losschickt, um die Kohlen aus dem Feuer zu holen, sind ziemlich überbeschäftigt, und auf diese Überlastung zielen die Taliban wahrscheinlich genau ab.

Und während man in den ländlichen Gebieten auch aus der Luft operiert, fällt das natürlich mitten in der Stadt aus. Am Stadtrand soll es allerdings schon erste afghanische Luftangriffe gegeben haben. Die Regierung kann es sich schlecht leisten, die Taliban jetzt da sitzen zu lassen. Es werden sicherlich Spezialkräfte zum Einsatz kommen, die von den USA und anderen ausgebildet wurden. Das wird alles nicht ohne Schäden für die Zivilbevölkerung abgehen.

Thomas Ruttig (Foto: SWP)
Ruttig: Sicherheitslage zunehmend angespanntBild: SWP Berlin

Hat sich mit dem Vorstoß der Taliban ins Zentrum von Kundus das Kräfteverhältnis zwischen Regierungstruppen und Kämpfern der Extremisten entscheidend verschoben?

Das Kräfteverhältnis ändert sich eher schrittweise, und es ist schwer zu sagen, an welchem Punkt es eine neue Qualität bekommt. Aber die Lage ist zunehmend gespannter, weil natürlich auch die Moral sowohl der Regierungskräfte als auch der Zivilbevölkerung darunter leidet. Die stellt sich die selben Fragen wie Sie: Nehmen die jetzt Kundus ein, sind die in vier Wochen in Kabul, und ist es vielleicht nicht doch besser, wenn wir einen unserer Söhne jetzt im Ausland unterbringen, nicht nur, damit er Geld verdient, sondern uns zur Not nachholen kann?

Aber es wäre auf jeden Fall ein neuer Faktor, wenn die Taliban sich jetzt tatsächlich in einer der fünf oder sechs größten afghanischen Städte festsetzen könnten.

Woher kommt der Erfolg der Taliban?

Es ist ein Guerilla-Krieg, das heißt einsickern, dann auch mal eine größere Operation durchführen, wie man es aus dem Vietnam-.Krieg kennt, der hat auch als Guerilla-Krieg angefangen, dann sind die Städte eingekreist worden, und ich glaube schon, dass die Taliban so etwas versuchen.

Was die Einstellung der Bevölkerung betrifft: In Afghanistan herrscht seit 35 Jahren mehr oder weniger Krieg, und das zehrt an den Kräften. Es gibt viele Leute, die sagen, wir könnten uns auch mit den Taliban arrangieren, wenn die die Macht übernehmen, wenn dann nur Frieden einträte, das hört man. Ich kenne einen afghanischen Stammesführer, der in seiner Jugendzeit in Deutschland studiert hat, der hat das im vergangenen Jahr auf einem Vortrag in Deutschland gesagt.

Dennoch: Die Jungen und Gebildeten wünschen sich alles andere als die Taliban zurück, denn das würde viele Einschränkungen von Freiheiten und Bildungsmöglichkeiten mit sich bringen. Die Taliban haben sicher nicht die Mehrheitsbevölkerung hinter sich, aber es gibt auch eine Menge Leute, die sich mit den Extremisten arrangieren könnten und müssten, wenn letzteren größere Fortschritte gelängen.

Sollte der Westen mehr tun, um die Regierung in Kabul gegen die Extremisten zu unterstützen?

Es macht schon Sinn, die afghanischen Regierungskräfte zu unterstützen, damit die gegen die Taliban nicht untergehen. Aber man darf auch nicht vergessen, dass ein großer Teil der Leute, die diese militärischen Kräfte führen, sich politisch und ideologisch in ihren Positionen nicht so sehr von den Taliban unterscheiden. Viele der alten Warlords und Kommandeure haben mindestens genauso viel Dreck am Stecken wie die Taliban.

Die Regierung in Kabul hat zwar Reformen zugesagt, aber sie ist jetzt ein Jahr am Ruder, hat aber noch nicht wirklich viel erreicht. Das liegt auch daran, dass ein Teil der Einheitsregierung, die Nordallianz, knallharte Taliban-Gegner, aber selbst auch Islamisten sind. Die wollen nicht wirklich Reformen, und die profitieren teilweise sogar vom Vormarsch der Taliban, indem sie sagen: Das ist jetzt unser Hauptproblem, das müssen wir anpacken, wir haben keine Zeit für Reformen.

Thomas Ruttig ist Mitbegründer und Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network.