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Erlebnis Berg- Zeit zum Atmen

Stefan Nestler18. November 2008

Das Buch des Bergsteigers, Fotografen und Autors Reinhard Karl ist schlicht Kult. Jetzt hat es der Deutsche Alpenverein neu herausgegeben, mit Karls Bildern und zwei Texten, die er kurz vor seinem Tod schrieb.

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Buchcover Erlebnis Berg: Zeit zum Atmen Quelle: Bruckmann Verlag

Ich fragte in Bibliotheken nach, suchte in Antiquariaten, forschte im Internet. Erfolglos. Reinhard Karls Buch "Erlebnis Berg: Zeit zum Atmen" war vergriffen, einfach weg, unauffindbar. Ich wandte mich an die örtliche Alpenvereinssektion. Und tatsächlich, da gab es jemand, der noch ein Taschenbuch-Exemplar im Bücherregal hatte und der es mir zum Kopieren überließ. "Aber nur, wenn du es mir morgen zurückbringst." 2002 war das. Seitdem liegen die Kopien an einem festen Platz in meinem Schrank und ich hätte eher 95 Prozent meiner gebundenen Bergbücher weggegeben als diese losen Blätter.

Stakkato voller Kraft

Im Granitfels des El Capitan im Yosemite-Nationalpark Quelle: Reinhard Karl/Bruckmann Verlag
Im Granitfels des El Capitan im Yosemite-NationalparkBild: Bruckmann Verlag

Kaum jemand hat das Lebensgefühl der Bergsteiger besser beschrieben als Reinhard Karl. Keine kitschig-verklärten, blumigen Ergüsse. Statt dessen kraftvolle Stakkato-Sätze, die beim Lesen feuchte Hände hinterlassen:

Abgeschlafft rutsche ich den Riss hinunter. "Das gibt den Riesenflug meines Lebens." Gleich kommt mein Unglück. Zittern! Angst! Fluchen! Enttäuschung!

Und immer wieder nachdenkliche Töne, wie 1978, nachdem Karl als erster Deutscher den Mount Everest bestiegen hat:

Wir machen Gipfelfotos für das Familienalbum: Ich, der Gipfelsieger. Ich, der Übermensch. Ich, das atemlose Wesen. Ich, der Reinhard auf einem Schneehaufen. Langsam kommen mir die Kälte, der Wind und meine Erschöpfung zu Bewusstsein. Langsam kommt nach der Freude die Traurigkeit, ein Gefühl der Leere: Eine Utopie ist Wirklichkeit geworden. Ich ahne, dass auch der Everest nur ein Vorgipfel ist, den wirklichen Gipfel werde ich nie erreichen.

Ein normaler Extremer

Auf den letzten Metern zum Gipfel des Achttausenders Gasherbrum II Quelle: Reinhard Karl/Bruckmann Verlag
Auf den letzten Metern zum Gipfel des Achttausenders Gasherbrum IIBild: Bruckmann Verlag

Seine Texte sind meist innere Monologe, in denen auch Zweifel und Ängste ihren Platz finden. Der Bergsteiger nicht als Held, sondern als verletzliches Individuum, auf der Flucht vor dem eintönigen Alltag, vor dem starren gesellschaftlichen Korsett oder auch vor den eigenen Komplexen. Ein Extremer, der ganz normal wirkt. Reinhard Karls Texte sind mal witzig, mal frech, mal spannend, mal philosophisch, aber nie flach:

Es ist egal, welchen Berg man besteigt, oben wird man immer weiter sehen. Was man da oben sucht, ich weiß es nicht. Die Wahrheit ist so kompliziert, dass sie niemand versteht. Eigentlich ist der Berg nur ein nominelles Ziel. Was zählt, sind die Stunden, Minuten, Sekunden, wie man sie verbringt.

1982, kurz vor der Abreise zu einer weiteren Himalaya-Expedition, schreibt Karl den Artikel "Unterwegs nach Hause", in dem er sich mit dem Älterwerden befasst und der sich fast wie ein Vermächtnis liest.

Je mehr man erlebt hat, desto mehr ist man. Man ist nicht mehr Wüstensand, der von jeder Emotion weggeblasen werden kann. Man ist ein Stein geworden, ein "Rolling Stone". Der unaufhaltsam seine Bahn zieht und der fest daliegt, wenn er zur Ruhe kommt.

Reinhard Karl stirbt am 19. Mai 1982 in einer Eislawine am Achttausender Cho Oyu. Er wird nur 35 Jahre alt.

(Reinhard Karl: Erlebnis Berg - Zeit zum Atmen, Bruckmann Verlag, ISBN 978-3-7654-5152-2, € 29,95)