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Rentiere im Museum

12. November 2010

Im Umgang mit Tieren ist Carsten Höller erfahren. Er hat über Blattläuse promoviert und für die Documeta X ein vielbeachtetes "Haus für Schweine und Menschen" konzipiert. Nun stellt er Rentiere ins Museum.

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(Foto: Tony Izaaks/ VG Bild-Kunst, Courtesy Esther Schipper, Berlin)
Bild: Tony Izaaks © VG Bild-Kunst, Bonn 2010 Courtesy Esther Schipper, Berlin

Zwölf männliche Rentiere machen mit, zwei Stubenfliegen, zwölf Kanarienvögel, vier Mäuse, Gefrierkuben, Kühlschränke, Halfter, Futtertröge, Tränken, Holz, Sand, Wasser, Urinfänger, Nachbildungen von Fliegenpilzen, ein sogenanntes Aufzugbett und zwei hängende Volieren. Das klingt ein wenig nach der Inventarliste eines Zoologischen Gartens, wurde in der historischen Halle des Berliner Gegenwartsmuseums Hamburger Bahnhof tatsächlich aber hübsch arrangiert - zu einer lebendigen Versuchsanordnung, oder, wie Museumsdirektor Udo Kittelmann sagt, zu einem experimentellen Feld in einem Doppelblindversuch. Das bedeutet nichts anderes, als dass die zentrale Halle des Hauses in zwei identische Hälften geteilt ist. "Was links ist, werden Sie auch immer rechts sehen. Alles ist auch in der Quantität, Qualität gleich".

Installationsansicht (Foto: Attilio Maranzano/ VG Bild-Kunst 2010 / Carsten Höller)
Installationsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2010Bild: VG Bild-Kunst 2010 / Carsten Höller, Foto: Attilio Maranzano

Will sagen, Carsten Höller hat in die weitläufige Halle einen streng symmetrischen Rentierverhau gebaut, mit Tränken und Futterstellen rechts und links, mit zwei über dem Ganzen schwebenden Vogelvolieren, mit hell erleuchteten Kühlschränken, in denen Fliegenpilze lagern und Flaschen mit Rentier-Urin, und mit einer mittigen Bettlandschaft. Die kann man für schlappe 1000 Euro pro Nacht mieten, inklusive eines Butlers, der das Frühstück ans Bett bringt, und mit dem außerordentlichen Privileg, das künstlerisch- zoologische Ambiente nächtens exklusiv genießen zu dürfen. Und dabei Erkenntnisse zu sammeln. Schließlich ist die Rentier-Installation ja auf der Suche nach dem legendären Soma. Dabei handele es sich um einen Begriff, sagt Kuratorin Dorothee Brill, "der in den vedischen Schriften, also in den Gründungsschriften der hinduistischen Religionen, einen Trank beschreibt. Und zwar einen Trank, der Erkenntnis bringt, Zugang zur göttlichen Sphäre, Reichtum, Siegeskraft. Und es ist interessanterweise nicht nur ein Trank, den Menschen zu sich nehmen, sondern auch Götter".

Zaubertrank und Aberglaube

Nur das Rezept dieses Trankes, das ist im Laufe der Zeit leider verloren gegangen. Und Beweise, dass es Soma tatsächlich jemals gegeben hat, die sucht man auch vergeblich. Eben deshalb aber reizt Carsten Höller das Experiment. Zumal Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ein amerikanischer Pilzforscher heraus gefunden haben will, dass Fliegenpilze Hauptbestandteil des legendären Wundertranks waren. Und Fliegenpilze werden gerne von Rentieren gefressen. Womit sich die Versuchsanordnung im Hamburger Bahnhof einigermaßen erschließt. Ein Teil der Rentiere könnte Fliegenpilz gefressen haben, sagt Carsten Höller. " Und der Urin dieser Rentiere könnte dementsprechend auch die Wirkstoffe des Soma oder zumindest die Wirkstoffe des Fliegenpilzes aufweisen. Und dieser Urin könnte dann, im Gegensatz zu dem anderen Urin von den Rentieren, die keine Fliegenpilze gefressen haben, an die anderen Tiere verfüttert werden. Oder an die Menschen." Das sei zumindest eine Vorstellung, die hier existiere.

Installationsansicht (Foto: Attilio Maranzano/ VG Bild-Kunst 2010 / Carsten Höller)
Installationsansicht mit künstlichen FliegenpilzenBild: VG Bild-Kunst 2010 / Carsten Höller, Foto: Attilio Maranzano

Grundsätzlich sei er schon zufrieden, wenn sich Kinder einfach freuen würden, dass man in dieser Ausstellung lebendige Rentiere anschauen kann, gestand Carsten Höller während der Pressekonferenz vor Ausstellungsbeginn. Aber noch lieber sind ihm natürlich all jene, die kommen, um sich einzulassen und ihre Rolle in diesem Soma- Experiment annehmen. Denn Aufgabe der Betrachter ist es ja schließlich, das Experiment auszuwerten. Mit ihrer Beobachtungsgabe und der gehörigen Portion Spaß an der Sache, die für die Durchführung von künstlerischen Experimenten wohl unabdingbar ist.

Wahrheit und Wahn

Ob das schließlich auch zu neuen Erkenntnissen führt? Sagen mag das derzeit niemand. Und auch Carsten Höller, der ernsthafte Künstler, schweigt vornehm. Oder ist der Mann, der immer mal wieder nach Wegen sucht, das Tier in die Kunst zu bringen, nur ein Scharlatan? Während der documenta X hatte er Häuser für Tiere gebaut, die beim Menschen in Ungnade gefallen sind. Jetzt sammelt er Rentier-Urin. Und lacht sich vielleicht diebisch ins Fäustchen, wenn aufgeregte Ausstellungs-Besucher in den nächsten Wochen entdeckt haben wollen, dass Kanarienvögel Siegeskraft ausstrahlen. Oder wenn Übernachtungsgäste dem Haus am Morgen in Götterpose entschweben.

Autorin: Silke Bartlick

Redaktion: Conny Paul