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Erlebnisse eines Kulturbotschafters

28. September 2011

Europa möchte in der Welt punkten, auch mit Kultur. Die Deutsche Welle organisiert Diskussionsveranstaltungen dazu. Und Autor Moritz Rinke berichtet über seine Jahre als Kulturbotschafter des Goethe-Instituts.

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Schwarzwälder Kirschtorte (Bildagentur Huber)
Bild: picture-alliance / Bildagentur Huber

Was ein Schriftsteller erleben kann, der die ganze Welt bereist und dabei zum Kulturbotschafter Deutschlands wird, weiß kaum jemand so gut wie der Berliner Autor Moritz Rinke. Seit Jahren ist er immer wieder unterwegs und hat dabei überraschende, irritierende, witzige Begegnungen festgehalten: Fünf Feuilletons aus zehn Jahren - als Serie bei DW-WORLD.DE

Palästina, 2007

Vielleicht war es ein guter Moment, um in Palästina einzureisen. Die ersten warmen Tage, starker Wind, die Straße am Checkpoint Qalandija staubte so, dass ich weder den Anfang noch das Ende des Staus sehen konnte. Irgendwann lief ein israelischer Soldat um das Auto vom Goethe-Institut herum, starrte auf diesen riesigen Goethe-Aufkleber vom Auto und winkte uns gelangweilt durch. Ich war sogar etwas enttäuscht. Man darf eben nicht mit einem Auto vom Goethe-Institut durch die Welt reisen, wenn man wissen will, wie die Wirklichkeit ist.

Porträt Moritz Rinke (FOto: dpa)
Moritz RinkeBild: picture-alliance/ ZB

Da waren die am Flughafen in Tel Aviv schon etwas gründlicher. Wer "Ramallah" und "Jenin" als Zielort angibt, lernt automatisch die Herren von der Flughafen-Polizei kennen, die Verhöre führen, wie ich sie bisher nur aus Filmen kannte. Direkt hinter dem Checkpoint sehe ich Palästinenser, sie standen Stunden in der Schlange und haben alle weiße Haare voller Staub, sie sehen aus wie die Überlebenden aus dem World Trade Center.

Adania Shibli, die palästinensische Autorin, die ich in Ramallah treffen werde, hat über den Staub geschrieben: "Er hat seine Existenzberechtigung, denn er beweist, dass ich den Checkpoint durchquert habe, deshalb muss ich ihn so lange wie möglich ertragen, das ist das Mindeste." Adania treffe ich zwei Stunden später. Eine junge Frau mit dunklen wachen Augen. "Sag mal, hast du meinen Namen am Flughafen gesagt?" "Nein", sage ich, "nur den von Goethe, den kannten die aber gar nicht." Sie bedankt sich, und wir fahren mit einem Freund durch Ramallah.

Schwarzwälderkirschtorte in Ramallah

Während ich darüber nachdenke, warum sie sich bedankt, dreht sie sich um und erklärt, dass sie letztes Jahr im Museum in Tel Aviv verhaftet worden sei, als sie Recherchen für ein Buch machen wollte. "Also, in Deutschland", sage ich, "werden Autoren nie verhaftet, wir kriegen nur Stipendien." Ob ich beeindruckt sei, wie ernst die Israelis die palästinensischen Künstler nehmen? "Ja, ja", sage ich und denke wieder an den Flughafen und das Vernehmungszimmer. "What do you intent to read in Ramallah?" Das hat mich in Germany niemand gefragt.

Mittlerweile fahren wir eine steile Straße hinauf, das Stadtzentrum liegt sehr hoch, auf dem "Gotteshügel" – das bedeutet Ramallah. Yazid fragt mich, ob ich Palästina mag. Ich schaue aus dem Fenster und sehe: Kinder rollen mit Einkaufswagen zwischen den gelben Taxis umher, die jeden anhupen, der potentiell eine Fahrt bezahlen könnte. Durch das Fenster werden von Kinderhänden gelbe Bohnen, Tücher, Postkarten mit Zidane, Figo, Ronaldinho gereicht. Die Frauen teils verhüllt, dann wieder junge in Jeans und offenem langem schwarzen Haar und roten Lippen. In einer Konditorei sehe ich eine Schwarzwälderkirschtorte.

Ramallah City, Stau auf dem Weg ins Zentrum (Foto: DW)
Ramallah City, Stau auf dem Weg ins ZentrumBild: DW/ Diana Hodali

Eigentlich schäme ich mich. Zuletzt hatte ich mich in Sarajewo geschämt, als ich eine ins Mittelalter zurück gebombte Stadt erwartete und dann lange auf einen EC-Automaten neben einer Diskothek starrte. Wenn man jahrelang nur CNN guckt, dann erwartet man in Ramallah nur Hamas-Terroristen und Kinder mit Steinen, aber keine Torten oder Frauen mit roten Lippen. "Ramallah ist das Baden-Baden von Palästina!", sagt Yazid. Er hat in Dortmund vier Jahre Landschaftsplanung studiert und gehört auch zu einem der privilegierten Staub-Palästinenser, die vermutlich einen israelischen Pass haben, aber das fragt man besser nicht.

Am nächsten Tag bin ich zu einem Barbecue eingeladen in einer vornehmen Gegend von Ramallah. Abed, ein kräftiger Mann Mitte dreißig, steht am Grill und wendet andächtig Lammstücke. Er ist verantwortlich für den Wirtschaftsteil einer Zeitung Vor 15 Jahren flüchtete er aus Gaza nach Ramallah, um auf der Universität zu studieren. Wir unterhalten uns über die Fußball-WM. Er fragt, ob ich ein Spiel im Stadion gesehen hätte. Ja, Deutschland gegen Italien! Abed steht ehrfürchtig auf, dann umarmt er mich und sagt: "Die Italiener fallen immer hin, das sind Heulsusen mit Designerunterwäsche, die nur Spaghetti essen!"

Frieden per Drachenschnur

Abed liebt nur die deutsche Mannschaft, was mir plötzlich sehr unangenehm ist. Ich überlege noch, ob ich ihn fragen soll, ob er das eigentlich in sportlicher Hinsicht meint, dann erklärt er mir, dass es sein größter Traum sei, einmal ein Spiel in Wirklichkeit zu erleben. Ich merke plötzlich, wie der Grill zischt und Abed sich schnell die Augen reibt. Später erklärt mir Adania, Abed habe nie zuvor mit einem Menschen gesprochen, der ein WM-Spiel im Stadion gesehen habe. Seine Eltern in Gaza konnte er nie mehr besuchen. Als sie starben, durfte er nicht einmal die Möbel holen. Vielleicht kann man sich das auch nicht vorstellen. Ein Ressortleiter für Wirtschaft, der in seinem Job über Weltökonomie und Globalisierung schreibt und im wirklichen Leben nicht einmal ins 15 Kilometer entfernte Ost-Jerusalem reisen darf. Abed war noch nie in Ost-Jerusalem.

Am nächsten Tag fahre ich in einem normalen Bus durch die Wüstenberge nach Jericho, 300 Meter unter den Meeresspiegel. Den Kindern im Bus, die lange gefroren haben, weil sie am Qalandija-Checkpoint im Regen stehen mussten, wird wieder warm. Ich denke an die zwei palästinensischen Kinder, mit denen ich gestern über den Dächern von Ost-Jerusalem Drachen steigen ließ. Israelische Kinder liefen herüber und schauten zu. Einmal verhedderte sich ein vorbeieilender orthodoxer Jude in der Schnur, als die Kinder einen dritten Drachen steigen lassen wollten. Ein jüdisches Mädchen verfolgte mit strahlenden Augen die Flugbahn der Drachen, bis eines der Kinder ihre Hände nahm und sie vorsichtig um die Drachenschnur legte. Jetzt durfte das Mädchen den palästinensischen Drachen lenken. Es war so ein friedliches Bild.

Mittlerweile sind wir kurz vor Jericho, Arafats Stadt, die älteste der Welt. Am Checkpoint stehen vier gepanzerte israelische Soldaten, der eine spielt einen Meter vom Bus entfernt kaugummikauend mit den Fingern am Auslöser seines Maschinengewehrs. Der andere legt den Gewehrlauf auf die Tür, sodass er durchs Fenster direkt auf die Kinder gerichtet ist. Als es weitergeht, sagen sie zu ihrer Mutter kein Wort. Sie scheinen das schon zu kennen. In Jericho sitze ich eine Stunde auf einem 2000 Jahre alten Stein. Danach kaufe ich mir im Old-City-Souvenir-Geschäft eine Krawatte. Ich habe mir noch nie in meinem Leben eine Krawatte gekauft. Sie ist wüstengelbgrau.

Israelische Panzer oberhalb des Flüchtlingslagers in Jenin 2002 (Foto: AP)
Israelische Panzer oberhalb des Flüchtlingslagers in Jenin 2002Bild: AP

Fahrt nach Jenin mit Adania, zur Lesung im Flüchtlingslager, Richtung Nablus. Fareed Majari, Leiter des Goethe Instituts in Ramallah, sitzt am Steuer. Vor einiger Zeit ist sein Auto bei Nablus von Siedlern angeschossen worden, aber jetzt steht ja Gott sei Dank groß Goethe auf unserem Auto! Mohammed Abu Zaid fährt auch mit, der meine Texte in Jenin auf Arabisch lesen wird. Mohammed ist eigentlich Arzt, aber er liebt deutsche Literatur. Er hat eine alte Freundin in Berlin, die ihm seit 20 Jahren zu Weihnachten eine Karte schreibt und die jedes Jahr zu Ostern ankommt.

In Jenin sieht es aus, wie ich Palästina aus dem Fernsehen kenne. Überall hängen Plakate von Selbstmordattentätern. Arafat nannte es "Jeningrad". Eine Frau jüdischer Einwanderer, genannt Arna, gründete hier lange vor der Intifada ein Jugendtheater, das heute ihr Sohn Juliano weiterführt. Es gibt einen Film über die Kinder von Jenin, die in diesem Haus groß wurden, er heißt "Arnas Children" und beobachtet sie über einen Zeitraum von zehn Jahren. Man sieht, wie sie tagsüber in den Trümmern ihrer Häuser wühlen und abends im Kinderhaus Stücke spielen, wo sie ihre Wut austragen, sie plötzlich stolz sein können und bewundert werden. Keins dieser Kinder hat das Jahr 2002 überlebt.

Weder Otto noch Auto passen nach Jenin

Jussef, den man hier den Clown nannte, weil er versprach, jedem in Jenin die Sonne ins Haus zu holen, versuchte im Oktober 2001 bei einem israelischen Raketenangriff ein Mädchen zu retten, das in seinen Armen starb. Er selbst wurde wenige Monate später bei einem Selbstmordattentat in Israel erschossen. Zur Lesung ist sein Bruder gekommen – und etwa 100 Jugendliche. Ich habe nicht einen einzigen Text, der hier hinpasst.

Mein Übersetzer hat eine Geschichte ausgesucht, in der ich beschreibe, wie mich einmal Otto Schily tyrannisierte. Mohammed trägt auf Arabisch vor. Adania liest über ihre Uhr, die immer stehen bleibt, wenn sie an den Checkpoints ist, so als wolle ihre Uhr sie trösten und sagen, dass ihr keine Zeit geraubt worden sei. Nach der Lesung fragt ein Junge, warum denn die eine über eine "Uhr" liest und der andere über ein "Auto"? – Otto Schily, "auto scheli", heißt auf Hebräisch "mein Auto"? – ihn würde aber die Uhr und "auto scheli" nicht so interessieren, schließlich hätten sie hier nur "Tod". Damit ist alles gesagt.

Meine Krawatte, habe ich mir überlegt, werde ich bei der Abreise tragen, Mohammed hat mir gezeigt, wie das mit dem Binden geht. Ich werde sie tragen, und am Flughafen in Tel Aviv habe ich dann ausnahmsweise mal eine Frage an die Polizei: "Shalom. Do you like my tie?" – "Yes. Why?" – "It's from Palestine!"

Autor: Moritz Rinke
Redaktion: Marlis Schaum / Ba